EU-Verordnung Nr. 2019/2144 sieht vor, dass ab dem 6. Juli 2022 alle in der EU verkauften Neuwagen über Intelligent Speed Adaptation – ISA – verfügen müssen. Intelligente Geschwindigkeitsassistenz, was so viel heisst wie: Das Auto hindert den Fahrer oder die Fahrerin daran, vorgegebene Geschwindigkeitsbeschränkungen zu übertreten.
Der britische Autojournalist Rory Reid (ihr kennt ihn von «Top Gear») hat dazu ein Erklärvideo online gestellt.
(Für alle, die das Filmchen nicht schauen wollen/können folgt untenstehend die Zusammenfassung.)
Bevor wir weiterfahren, müssen wir kurz das Thema erwähnen, das Reid als Erstes behandelt: Die Frage nämlich, ob EU-Regulationen für Brexit Britain überhaupt von Belang sind (wer dies überspringen möchte, kann bei Minute 2:27 fortfahren). Die kurze Antwort lautet: Grossbritannien wird wohl die EU-Vorgaben übernehmen. Und dies ist für alle aufschlussreich, die denken, die Schweiz als Nicht-EU-Land könne einen Sonderzug fahren. Wenn ein 66-Millionen-Einwohner-Markt wie das Vereinigte Königreich sich wohl oder übel den EU-Vorgaben betreffend ISA anpassen muss, wird die Autoindustrie garantiert keine Sonderausführungen für das Käffchen Schweiz bereitstellen wollen. Autohersteller hassen es, wenn einzelne Märkte von Gesetzgebungen abweichen. Es ist viel zu kompliziert und zu teuer, Autos für einzelne Märkte mit vielen unterschiedlichen Regeln zu entwickeln. Dies bestätigten auch Schweizer Importeure auf Anfrage von watson. Björn Müller von der Toyota AG, etwa:
Alle angefragten Fachpersonen wiesen aber ebenfalls auf ein Problem hin, das Rory Reid anspricht: Zurzeit ist es noch vollkommen unklar, ob und wie besagte Verordnung Nr. 2019/2144 überhaupt umgesetzt werden kann. Dazu später mehr. Zuerst mal:
Bedeutet es, dass man nie wieder das Tempolimit überschreiten kann? Und falls ja, wozu soll noch irgendjemand von einem Porsche träumen, wenn der nach 120 km/h einfach abschaltet?
Okay – nein, ein intelligentes Geschwindigkeitsbegrenzungssystem wird nicht einfach den Motor abschalten. Vielmehr wird es ein Vorgehen verwenden, das in der Industrie den treffenden Fachausdruck «nagging» (Nörgeln) bekommen hat. Das heisst, sobald das Auto (mithilfe der eingebauten Kameras und GPS-Daten) erkennt, dass das Tempolimit überschritten wird, wird der Lenker oder die Lenkerin gewarnt. Fahrzeughersteller können dafür zwischen vier verschiedenen Möglichkeiten wählen:
Und übrigens können diese akustischen Warnungen entweder ein «kontinuierliches oder intermittierendes Tonsignal» sein (einer dieser Piepser, Bings, Bongs oder Gongs, die bei der Sitzgurtwarnung bereits nerven) oder durch «vocal information» erfolgen, was bedeutet, dass dein Auto dir tatsächlich «FAHR GOPFERTAMMI LANGSAMER» o. Ä. zubrüllen könnte. Der virtuelle nervige Beifahrer, also. Juhui.
ABER: Ignoriert man die Warnungen lange genug, hören sie von selbst auf. Denn dies schreibt die Verordnung vor. Weshalb wir uns nun alle fragen:
Wozu braucht's das? Und als Folgefrage: Genügt nicht schon die bereits erhältliche Technologie? Etliche moderne Autos können Tempolimit-Schilder erkennen und Geschwindigkeitsbegrenzung auf dem Armaturenbrett anzeigen, etliche weitere besitzen bereits die Tech, das Auto zu verlangsamen in Verbindung mit dem Abstandsregeltempomat. Warum muss nun gepiepst und vibriert und kaskadiert (it's a word) werden?
Nun zur oben erwähnten Frage, ob diese Verordnung wirklich umgesetzt werden kann. Denn obwohl die Deadline in weniger als einem Jahr ist, befinden wir uns immer noch in der Entwurfsphase. Es dürfte ordentlich chaotisch werden. Aktuell sind so ziemlich alle Parteien unglücklich über den Stand der Dinge: die Autoindustrie, die Verkehrssicherheitsbeauftragten, die Juristen – alle. Die Association des Constructeurs Européens d’Automobiles ACEA, der Lobbyverband der europäischen Autohersteller, beschreibt die anvisierten Massnahmen als «nicht effizient und vor allem lästig». Auf der anderen Seite die International Federation of Pedestrians, die Interessengruppe der Fussgänger:
Die Autohersteller wiederum sind zudem verärgert über die Anforderung, dass sie der EU rückmelden sollen, wie gut besagte Sicherheitssysteme funktionieren. Da gibt es eine lange Liste an Daten, welche die EU von den Autoherstellern erhalten will, etwa auch die Info darüber, wie oft und wie lange die ISA zum Einsatz kommt und ob jemand tatsächlich darauf achtet. Die ACEA rechnet damit, dass dies in der Praxis für Kunden auf regelmässige Besuche beim Autohändler für «Datenextraktion» hinausläuft. Was so ziemlich jeden und jede angurken wird. Hoffen wir mal, dass dies via Updates erledigt werden kann. Aber egal wie dies technisch vonstattengeht, letztendlich fährst du ein Auto, das beim Lehrer petzen geht.
Wisst ihr, wer auch noch unzufrieden mit der Verordnung ist? Tesla. Die Kalifornier wehren sich gegen die Vorgabe, dass die visuelle Warnung sich im direkten Sichtfeld des Fahrers befinden muss. Beim Tesla Model 3 wird bekanntlich alles im zentralen Ipad-Dings oberhalb der Mittelkonsole angezeigt. Ergo müsste Tesla ein Head-up-Display nachrüsten. Tesla beklagt sich aber auch über die Vorgaben, eine ganze Reihe diverser Verkehrswarnschilder lesen können zu müssen, «die mit reinen Kamerasystemen aus der Entfernung nur schwer klar zu erkennen sind», wie es in einem Statement heisst. Womit sie nicht Unrecht haben (obwohl dies etwas ironisch ist – behauptete Tesla nicht doch kürzlich, ihre Autos seien «full self driving»?). Aktuell ist das tatsächlich ein Problem bei allen Marken: Auf 120-km/h-Autobahnen glauben Autos, 100-km/h-Schilder zu erkennen, oft am Heck von Sattelschleppern. Auch soll immer wieder vorkommen, dass 30-km/h-Schilder in Schulzonen als 90 km/h gelesen werden. Wehe dem, der in einer solchen Zone mit Abstandsregeltempomat unterwegs ist ...
Keins. Denn niemand weiss es wirklich. Christian Frey, PR Manager beim Schweizer VW-Importeur AMAG, sagt auf Anfrage von watson:
Es ist ein enorm kompliziertes Thema. Und ein enorm wichtiges, besonders in Hinsicht auf die Standardisierung von autonomen Fahrzeugen. Sicherheit im Strassenverkehr ist das Wichtigste – an der guten Absicht der EU-Verordnung gibt es nichts zu monieren. Ausserdem dürfte sich, so zeigen historische Vergleiche, die Kundschaft an alles gewöhnen, selbst wenn die Veränderungen anfänglich noch nerven. Kaum jemand stört sich heute noch am Sitzgurtwarnsignal – man schnallt sich an, und gut ist. Aber betreffend ISA müsste vielleicht eine Lösung her, die wenigstens eine der Interessengruppen zufriedenstellt, statt – wie aktuell – keine.