Micah Truran berichtete über ihre Erfahrungen mit der Identitätsfindung im Rahmen der offenen Bühne «The Moth» in New York. Das ist ihre Geschichte:
«Meiner Meinung nach ist ‹Der Glöckner von Notre Dame› einer der unterschätztesten Disney-Filme. Da gibt es diese eine Szene, in der der Glöckner seinen Käfig umschmeisst und noch ein bisschen rumtanzt und ruft:
Eine ziemliche gute Metapher für meine Erfahrungen mit meinem Geschlecht. Ich wuchs in einer sehr konservativen Familie auf. Ich wuchs auf mit Disney-Filmen, Bibelgeschichten und den alten Schwarz/Weiss-Hollywoodklassikern. Die Rollen waren dabei immer gleich verteilt:
Der Kerl ist der Held, der Abenteurer, der sich die Mädchen angelt.
Und die Frauen waren Ehefrauen, Mütter und Freundinnen des Helden.
Ich brauchte nicht lange, um für mich zu entscheiden, dass die Frauenecke nicht sonderlich erstrebenswert wirkt. Lieber wollte ich ein Junge sein.
Während meiner ganzen Kindheit fühlte ich mich immer unwohl damit, ein Mädchen zu sein. Und wenn ich einen Franken bekommen hätte für jedes Mal, als mir gesagt wurde:
– dann müsste ich mir jetzt ganz bestimmt keinen Kopf mehr um mein Studiendarlehen machen.
Ich war nie frei, die Dinge zu tun, die ich tun wollte. Weder durfte ich an den Pyjama-Parties meiner Freunde teilnehmen, die alle Jungs waren und ich damit das einzige Mädchen in der Runde gewesen wäre, noch durfte ich mich fürs Football-Team bewerben. Sogar ein Roller war ausgeschlossen.
Dann kam ich ins College, und dort konnte ich plötzlich auftreten und sagen: Hey, ich bin ein Junge. Manchmal musste ich es vielleicht ein, zwei Mal erklären, so: Hey, ich bin transgender und ein Junge. Doch die meisten akzeptierten die Situation einfach.
Manche hatte zwar trotzdem Probleme damit und es wurde wirklich frustrierend und es kostete mich viel Kraft, mein Umfeld ständig zu korrigieren. Aber das nahm ich einfach an.
In meiner Klasse zum Thema ‹Frauen und Gender Studies› wurde mir erzählt, dass das Geschlecht rein performativ sei, ein soziales Konstrukt. – Ja, ok, sicher, nervt trotzdem.
Doch dann schlug das Pendel plötzlich in die andere Richtung aus. Ich konnte plötzlich wieder nicht das anziehen, wonach ich mich fühlte, denn dann hiess es: Aber ...
Ich mochte meine Gesangsstimme sehr, aber ich klinge eben wie ein Mädchen.
Ich war also wieder gefangen. Und ich hatte das Gefühl, dass ich hart dafür arbeiten musste, überhaupt jemand zu sein.
Im Film ‹Matrix› kommt diese eine Szene vor, in der Neo einen kleinen Jungen trifft, der nur mit seiner Vorstellung einen Löffel verbiegt und der Junge meint nur:
Neo braucht zwar einen Moment, um zu verstehen, was er damit meint, aber als er es endlich begreift, ist er frei zu tun was immer er will.
Und dann kommt da dieser eine Tag im Hochsommer: Ich hatte mir meinen Irokesen hellblau gefärbt, ich fühlte mich grossartig. Ich fuhr auf meinem Roller – den ich jetzt endlich haben darf, weil ich zu den Grossen gehöre – zum Supermarkt. Vor dem Laden habe ich noch eine starke Bremsung hingelegt, sodass die Kiesel flogen.
Da standen drei kleine Kinder, zwei Jungs und ein Mädchen. Die starrten mich an als wäre ich ein Rockstar.
Das war das erste Mal in Jahren, dass ich als Mädchen bezeichnet wurde und es mich nicht aufregte. Mir wurde klar: Es spielt keine Rolle ob ein Junge oder ein Mädchen etwas tut. Es spielt keine Rolle ob irgendjemand glaubt, ich sei ein Junge oder ein Mädchen.
Es gibt kein Geschlecht. Es gibt keinen Löffel. Es gibt nur mich. Und es gibt keine Regeln.
Seit mir das klar geworden ist, trage ich was ich will, sage was und wie ich will, benehme mich wie ich will. Vorher hatte ich mir ständig Sorgen um mein Geschlecht gemacht. Doch seit ich aufgehört habe, den ‹Regeln› zu folgen, denke ich nicht mal mehr darüber nach.
Mir hat sich eine ganz neue Welt aufgetan. Ein neuer Start. Und ich fühle mich glücklicher und wohler in meiner Haut als jemals zuvor.»