Die Tage der Ungewissheit für die Aargauerinnen und Aargauer sind vorbei: Der Vierfachmörder von Rupperswil ist gefasst. Aufatmen im ganzen Kanton, im ganzen Land. Nur nicht bei jenen, die direkt betroffen sind. Bei den Angehörigen der Opfer: Sie können das Unfassbare zwar jetzt zuordnen, Trauer, Wut, Unverständnis werden sie dennoch weiter begleiten. Bei den Angehörigen des mutmasslichen Täters: Sie seien «aus allen Wolken gefallen», sagte David Bürge, Verantwortlicher des Care-Teams Aargau. «Der Boden ist ihnen unter den Füssen weggerissen worden.»
Die Frau, die weiss, was das heisst, trägt einen Sommermantel, eine Lesebrille, getönte Haare, und sitzt an diesem kühlen Maiabend im «Café du Commerce» in der Altstadt von Biel. Gabrielle Hirt, 57, bestellt ein Mineralwasser ohne Kohlensäure und zündet sich eine Zigarette um die andere an. Sie ist die Mutter eines verurteilten Gewaltverbrechers. Und hat eine Selbsthilfegruppe für Angehörige von Straftätern gegründet.
Die Tage der Ungewissheit beginnen für sie in einer Sommernacht vor zwölf Jahren. Ihr Sohn Daniel*, 19, hört gerne Hip-Hop und raucht gerne mal einen Joint. Auch an jenem Freitag geht er mit seinen Kollegen in den Ausgang. Und auch an jenem Freitag wollen sie kiffen. Vor der «Havanna-Bar» im Bieler Ausgehviertel sprechen sie andere Jugendliche an. Fragen nach Gras und Zigaretten. Die Männer sagen Nein, man gerät aneinander.
Plötzlich liegen ein 26-jähriger Schweizer und ein 27-jähriger Spanier auf dem Boden – schwer verletzt durch Messerstiche. Noch in der gleichen Nacht sterben sie im Spital. Zeitungen schreiben von der «Bieler Blutnacht». An der grössten Kundgebung seit Jahrzehnten ziehen über 2000 Personen schweigend durch Biel. Die Stadt spendet Tausende Trauerkerzen. «Nein zu Gewalt – non à la violence!» blendet sie auf einer Infotafel am Zentralplatz ein. Der Polizeidirektor schwört sich, «dass diese beiden Männer nicht umsonst gestorben sind». Fortan patrouillieren mehr Polizisten im Zentrum.
In jener Freitagnacht klingelt bei Gabrielle Hirt das Telefon. Das Spital sagt, ihr Sohn sei verletzt. Sofort fährt sie mit der Tochter hin. «Mehrere Finger waren fast ab, er wollte ja seinem Kollegen das Messer aus der Hand nehmen», erzählt sie. Die Operation dauert sieben Stunden. In der Zwischenzeit wird klar, dass zwei der Angegriffenen gestorben sind.
«Das war furchtbar. Es drehte nur im Kopf: Was, wenn Daniel es gewesen ist?» Sie habe gewusst, dass er viel gekifft habe zu jener Zeit. Dass er aggressiv werden konnte. Nach der OP können sie kurz zu ihm. Daniel sagt, er sei nicht der Täter. Die Mutter glaubt ihm – bis heute. Sie sagt: «Ich will ihn nicht als Heiligen hinstellen. Aber er wäre nie so dumm gewesen, es nicht zuzugeben, wenn er es gewesen wäre.»
Daniel wird zwei Jahre danach in der Verhandlung am Kreisgericht Biel-Nidau sagen: «Zur Sicherheit» habe er das Küchenmesser noch schnell zu Hause eingesteckt, bevor er in den Ausgang gestartet sei. «Das Messer war zum Abschrecken gedacht, damit mir auf dem Heimweg niemand zu nahe kommt.»
Das Gericht glaubt ihm nicht, dafür seiner DNA auf dem Messer und den zahlreichen Zeugen, die sagen, Daniel habe zugestochen. Das Urteil: 15 Jahre Freiheitsstrafe, anschliessend Verwahrung. Später wird die Strafe vom Obergericht leicht reduziert. Heute sitzt er in einem Massnahmenzentrum.
Als Gabrielle Hirt dieser Tage im Internet liest, die Aargauer Kantonspolizei habe den mutmasslichen Mörder von Rupperswil festgenommen und auch dessen Mutter abgeführt, sieht sie augenblicklich sich selber wieder, wie sie in jener Augustnacht 2004 im Spital mit ihrem Sohn spricht und Polizisten hereinkommen. «Die müssen wir voneinander trennen», habe einer gesagt. Über das, was vor der «Havanna-Bar» geschehen war, durfte die Mutter mit ihrem Sohn nicht sprechen. In der Juristensprache heisst das: Kollusionsgefahr – Verdunkelungsgefahr.
Zu Hause habe sie das Telefon abgestellt. «Alle riefen an und fragten: ‹Geits?› – Irgendwann konnte ich es nicht mehr hören.» Wegen Boulevard-Reportern habe sie sich anfänglich nicht mehr aus dem Haus getraut. Zwar habe es keiner explizit geschrieben, aber von Anfang an sei der Unterton klar gewesen: «Die Mutter muss irgendwie mitschuldig sein.» Oft denke sie deshalb heute an die Mutter des Rupperswiler Vierfachmörders: «Die Frau kann in diesem Dorf nicht mehr existieren.»
Die Vorverurteilung in der Öffentlichkeit und die so auferlegte Mitverantwortung seien «etwas vom Schlimmsten». Angehörige der Opfer hätten sie beschimpft, auch in der Öffentlichkeit: «Ich stand an der Migros-Kasse und sie riefen mich ‹Mördermutter›».
In der Zeit nach der Verhaftung, sagt Gabrielle Hirt, sei sie eine Art gespaltene Persönlichkeit geworden. Eine Gabrielle ging weiterhin unauffällig zur Arbeit, «funktionierte». Die andere kam am Abend erschöpft nach Hause. Trauerte still um die Opfer. Fragte sich, was sie alles falsch gemacht haben könnte. Setzte ihre Restkraft ein, um Besuchsstunden bei ihrem Sohn wahrzunehmen und Verhandlungen zu besuchen.
Später ist Gabrielle Hirt aufgefallen: Werde ein Jugendlicher oder eine Jugendliche straffällig, gebe die Öffentlichkeit, die sich mit den Details eines Falles nicht auskenne, immer auch den Eltern die Schuld. Ein Stück weit kann sie das nachvollziehen: «Ich habe am Anfang auch mich mit beschuldigt.» Sie habe Suizidgedanken gehabt. Sich nicht mehr getraut zu lachen. Mit der Zeit sei ihr klar geworden, dass sie sich von der Tat abgrenzen müsse. «Daniel weiss, dass ich hinter ihm stehe, wo immer ich kann. Aber es gibt heute sein Leben und mein Leben.»
Die Ruhe hat sie wiedergefunden. Oder zumindest den Rhythmus: Mehr als zwei bis drei Stunden Schlaf pro Nacht werden es selten. Medikamente helfen. Geholfen hat ihr auch eine Selbsthilfegruppe für Angehörige von Straftätern. Gegründet hatte sie diese selber: «Ich suchte lange nach einer, aber fand nichts. Das Thema ist ein Tabu.»
Fünf Frauen kamen, kein einziger Mann. In einer Theatergruppe wurde die Geschichte aufgearbeitet und aufgeführt. Das sei ein sehr schwieriger, aber wichtiger Prozess gewesen: «Ich ging bei fast jeder Probe weinend hinaus.»
Ende April fand die jüngste Verhandlung statt. Die Verwahrung wurde um zwei Jahre verlängert. Gabrielle Hirt ist enttäuscht über das Urteil. Sie wünscht sich eine Verlegung ihres Sohnes auf eine offenere Therapiestation. Wann es so weit sein wird, weiss sie nicht. Am Sonntag ist wieder Besuchstag.
*Name geändert