Die Worte von Per Mertesacker liessen aufhorchen. Wieder einmal hat ein Fussballer gewagt, zu erzählen, was wirklich in ihm vorgeht. Es ist zugleich berührend und schockierend, wenn ein Weltmeister wie Mertesacker gesteht, dass der Druck bisweilen so gross war, dass er nach dem Ausscheiden an der WM 2006 erleichtert war, dass es vorbei war. Weil er nicht noch ein Spiel ausgehalten hätte.
Der 1,99 Meter grosse Per Mertesacker ist ein Modellathlet. Ein kompromissloser, harter Verteidiger. Einer, dem man von aussen vieles zutraut, aber keine Schwächen – schon gar nicht mentale. Dafür wirkt er ja viel zu stark.
Doch gerade dieser Hüne ist es, der als einer der ersten Weltklasse-Fussballer ehrliche, brutale und vor allem detaillierte Einblicke in das Innenleben eines Profis gibt. Über seine Einsamkeit, den Druck, die Einfältigkeit. Alles versteckt hinter der Glitzerwelt des Fussballs.
Weshalb die Hürde, über seine Schwächen zu sprechen, so hoch ist, zeigt sich auch im Fall des Per Mertesacker. Die Akzeptanz für wahre Grösse, das Eingestehen von Schwächen, fehlt in der Gesellschaft noch weitgehend.
Reaktionen wie «Augen auf bei der Berufswahl», «Weichei» oder «unnötige Jammerei» sind noch die anständigeren Kommentare, die in den sozialen Medien über Mertesacker nach seinem offenen Interview umhergeistern. Für Aufsehen sorgte auch eine Expertenrunde bei «Sky Sport» mit Reiner Calmund, Christoph Metzelder und Lothar Matthäus, bei der vor allem Letzterer wenig Empathie zeigte:
Nach der Sendung relativierte Metzelder immerhin:
Die besagten Personen werden für 8 Stunden Live-Sendung bezahlt, in der sie zwischen Spiel und Halbzeitanalyse mit einem singulären Zitat konfrontiert werden, ohne das Interview in Gänze zu kennen!
— Christoph Metzelder (@CMetzelder) 11. März 2018
Dass Feingefühl in den Medien manchmal noch fehlt, zeigt auch folgendes Beispiel des RTL-Mittagsjournals «Punkt 12», bei dem aber schnell zurückgerudert wurde.
Weitgehend wird das Interview von Mertesacker aber sowohl von Fans, als auch von den Medien beklatscht. Die Frage ist bloss, wie lange es uns in Erinnerung bleiben wird. Wer denkt, wenn morgen bereits wieder die Champions-League-Hymne gespielt wird, noch an solche Probleme? An die Angst, welche die Spieler in diesem Moment vielleicht haben, während wir nur die Fassade sehen?
Ist es denn normal, unter den Augen von Millionen von Zuschauern, diesem Druck standzuhalten? Oder ist es nicht eher normal, daran zu zerbrechen? Es gibt wahrscheinlich viel mehr Fussballer, die ähnliche Probleme haben wie Mertesacker, als wir überhaupt zu glauben wagen.
Dabei sollte doch alles anders werden. Anders als damals, als sich Robert Enke 2009, von schweren Depressionen geplagt, das Leben nahm. Als ein Jahr später seine berührende Biografie «Ein allzu kurzes Leben» die Fussball-Welt für einen Moment aufrüttelte.
Das Thema Druck, welches Enke in die Depression trieb, sollte fortan kein Tabu-Thema mehr sein. Sollte. Doch die Show muss weitergehen, die Fussballer-Bubble wird grösser und grösser. Wenn Spieler als Ware für über 100 Millionen hin- und hergeschoben werden, wer sieht dann noch den Menschen hinter dem Spieler mit dem teuren Namen auf dem Trikot?
Immer wieder öffnen sich Fussballer, es lässt sich an ihren Worten meist aber nur erahnen, was sie durchmachen. Gianluigi Buffon erwähnte in der kürzlich erschienenen Netflix-Serie über Juventus Turin, dass er sehr oft weine. Alleine. Zuhause. Er, der Welttorhüter, die Legende. Er, der ebenfalls an Depressionen litt. Es sind Warnzeichen, die ignoriert werden.
Denn spätestens beim nächsten Fall wie Robert Enke dürfen wir uns dann fragen: Haben wir das nicht kommen sehen?