Leben
Flair & Fair

Menthol-Zigis und blutende Beine: Meine Kindheit im Kaff

Menthol-Zigis und blutende Beine: So war meine Kindheit im Kaff

Neuhausen am Rheinfall boomte um 1970. Unserem Autor, der dort aufwuchs, war das wurstegal. Das halbe Kaff war sein Spielplatz, und überfürsorgliche Helikoptereltern waren noch nicht erfunden – leicht verklärte Erinnerungen über fast paradiesische Zustände.
14.04.2017, 20:2215.04.2017, 16:42
jürg odermatt
Mehr «Leben»

Warnung! Der folgende Satz kann Lehrpersonen verstören: In der 1. Klasse im Kirchacker-Schulhaus waren wir 42 Schülerinnen und Schüler. Unter ihnen Italiener, Spanier, Jugoslawen, Türken, Ungarn, Tschechoslowaken – ein bunter Haufen. Die meisten wie ich aus der unteren Mittelschicht, Kinder von Arbeitern.

Wir wohnten in Neuhausen am Rheinfall, im Unterdorf, in einem der beiden Dreifamilienhäuser mit je einem Werkstattanbau, die mein Urgrossvater in den 1910er Jahren an der Rheinstrasse hatte erstellen lassen und die mein Vater übernahm. Gegen die SBB-Geleise erstreckte sich ein grosser Garten mit Obstbäumen, Büschen, Gemüsebeeten und einer Terrasse. Früher waren dort Rebhänge gewesen. Nun wurde in Neuhausen gebaut, als gäbe es kein Morgen. Das Kaff, in dem ich aufwuchs, war gleichzeitig: eine Boomtown.

Der Autor (Faxenkönig, links) mit seinen Schulgspändli.
Der Autor (Faxenkönig, links) mit seinen Schulgspändli.

Ich fand das cool. Denn es konnte sein, dass Schulkumpel Jürg Bührer mich und weitere Gspändli zum Rumplantschen einlud – in einem Schwimmbecken hoch oben auf dem Dach des zehngeschossigen Bührer-Hochhauses, das kühn aus dem einstigen Dorfkern ragte und wo Vater Bührer im Erdgeschoss ein Möbelgeschäft betrieb. Wenn uns im Pool langweilig wurde, füllten wir Ballons mit Wasser, schmissen die Bomben runter und lachten uns in Halbhysterie, wie die Leute auf dem Trottoir vor der neuen Migros erschreckt zur Seite sprangen, wenn so ein Geschoss einschlug.

In diesem supermodernen Migros-Markt, realisierten wir bald, konnte man die Coupons fürs Pfandflaschendepot selbst herauslassen. Also nahmen wir von zu Hause jeweils eine, zwei leere Flaschen mit und stellten sie in eine supermoderne Maschine, die sie klirrend aus unserem Blickfeld und ins Lager beförderte. Danach zogen wir ein Dutzend Coupons und wechselten sie mit treuherzigem Blick an der Kasse in Bares. Sorry, Migros! Fast immer war es Andres Nüesch, der Älteste unter uns, der mit diesem Geld Zigaretten kaufen gehen musste («für min Vater»). Wir standen auf die Mentholmarke «North Pole». Frisch, weisch – und ein schönes Päckchen. Rauchen gingen wir auf dem Felsen hinter dem Pontonierhaus zwischen Schaffhausen und Neuhausen, und schauten zu, wie die Züge auf der Linie nach Zürich vorbeifuhren.

Fürs Foto wurden allerdings nur Salzstangen geraucht.
Fürs Foto wurden allerdings nur Salzstangen geraucht.

Meine Eltern – und die meiner Kindheitsfreunde – waren die Antithese zu den überfürsorglichen Helikopter-Eltern von heute: Wir durften spielen, wo wir wollten. Wir spielten an den Bahngleisen, kletterten in Güterwaggons und 2.-Klasse-Wagen auf dem Abstellgleis, bis die Rangierarbeiter in ihren orangen Übergwändli irgendwann beschlossen, uns Angst einzujagen, und uns eines Tages Richtung Zürich wegrangierten. Wir sprangen aus dem fahrenden Zug und schlugen uns mit rasenden Herzen in die Büsche. Wir spielten am Rhein, an einer Schnur liess ich mein neues Böötli mit Motor zum Aufziehen schwimmen. Die Schnur löste sich, das Schiff trieb Richtung Rheinfall davon. Es war Herbst, das Wasser kalt. Ich konnte noch nicht schwimmen und wollte mein Boot zurück – also watete ich ihm auf glitschigen Steinen hinterher. Mit bis zur Hüfte pflotschnassen Kleidern kam ich zu Hause an, die Eltern waren eher not amused. Ich verstand das ein bisschen, aber mein Schiffchen war gerettet.

Später, als ich schwimmen konnte, machten wir uns sommers einen Spass daraus, uns rheinabwärts treiben zu lassen, und zwar weiter als bis zum Eisensteg, der Flurlingen mit Neuhausen verbindet. Dort war offiziell Schluss mit Schwimmen. Umso verlockender, sich weiter zu wagen. Der Rheinfall war nicht mehr so weit, vor allem aber gab es fiese Felsen knapp unter der Wasseroberfläche mitten in der Strömung, an denen wir uns zuverlässig die Beine blutig schlugen. Wir verglichen unsere Wunden und rannten wieder flussaufwärts. Denn wir wussten nicht, was wir taten.

Bild: KEYSTONE

Wir spielten Fussball auf dem Bahnhofplatz. Schmissen Steine in Richtung einer verfeindeten Bande Oberdörfler. Gurkten mit Trottinett und Velo durchs halbe Dorf und suchten uns die steilsten Wegchen aus, um runterzubrettern. Manchmal fuhr blöderweise gleichzeitig ein Auto vorbei und musste auf die Klötze. Der Kaff-Faktor hatte zur Folge, dass der Fahrer uns jeweils kannte, und zu Hause gabs ein Donnerwetter:

«Herr Bänziger hat angerufen. Du bist ihm schon wieder direkt vors Auto gefahren!»

Ich hatte mehr als einmal einen Schutzengel. Aber das ganze Unterdorf war unser Spielplatz.

Im Kaff wachsen die Kinder auf Bäumen.
Im Kaff wachsen die Kinder auf Bäumen.

Unser erster Fernseher sah aus wie ein Möbel – ganz in Holz verpackt. An der Seitenwand gab es ein bierdeckelgrosses Rad, an dem man drehte, um den Sender zu wechseln. Viel zu drehen gab es nicht. Bei uns gab's den «Schwiizer» und «Tüütsch eis» (aka ARD). Ich war neidisch auf meine Freunde von der Gaswerkstrasse, Andres und Roli Nüesch: Sie hatten, crazy!, einen dritten Sender, den «Tüütsch zwei» (ZDF), und waren Scheissglückspilze, denn auf diesem Kanal lief «Raumschiff Enterprise». Allerdings bewiesen die Programmgestalter wenig Sensibilität und strahlten die Folgen jeweils dann aus, wenn es bei uns Abendessen gab. Dafür hätten sie den vulkanischen Nackengriff verdient!

Ein erstes TV-Highlight war die Abfahrt von Bernhard Russi in Gröden, wo er 1970 als Nobody Weltmeister wurde: Die Zeit eingeblendet in riesigen Digitalzahlen am unteren Rand der Schwarzweissbilder, dazu die bebende Stimme von Reporter Karl Erb, der sich in Ekstase gospelte und weinte, als der junge Russi seinen grossen Coup landete – all das steckte die ganze versammelte Familie an.

Der Schweizer Skirennfahrer Bernhard Russi in Aktion an der Ski Weltmeisterschaft 1970 in Val Gardena. Zur Verblueffung aller wurde der damals erst 21 jaehrige Bernhard Russi aus Andermatt Weltmeister ...
Zur Verblüffung aller wurde der damals erst 21-jährige Bernhard Russi aus Andermatt Weltmeister in der Abfahrt.Bild: KEYSTONE

Apropos Unterhaltungselektronik: Mit 10 bekam ich meinen ersten Kassettenrecorder. Er hatte ein kleines Mikrofon, optimal, um es in die Hand zu nehmen und damit rumzuposen. Wenn ich vom Radio etwas aufnehmen wollte, platzierte ich das Mik vor dem Transistorgerät in der Küche und wartete, bis meine Lieblingssongs in der Schweizer Radio-Hitparade an der Reihe waren. Eine nicht undelikate Angelegenheit. Mein Dad war nämlich darauf spezialisiert, den Refrain von «48 Crash», «Seasons In The Sun» oder «Skweeze Me, Pleeze Me» zu verhunzen, indem er zur Unzeit in die Küche platzte und «Hast du deine Aufgaben gemacht?» polterte.

Gleich über die Strasse bei uns stand eine ehemalige Trotte. Das alte Gebäude wurde von der Papierwarenfabrik und der SIG als Lager genutzt, bevor die Gemeinde es kaufte und zum Kleintheater umbaute. Dort sah ich die allerersten Livegigs: Schwiegermuttertraum Dieter Wiesmann sang seine Lieder in Schaffhauserdeutsch.

Der Schweizer Chansonnier Dieter Wiesmann präsentiert am 12. Oktober 1979 sein «Rollendes Kleintheater».Bild: KEYSTONE

Ich mochte den ganzen Klimbim mit farbigen Lichtern und Bühnenvorhang auf Anhieb – wie eigentlich alles, was ein wenig Entkommen aus der bleiernen Spiessigkeit unserer Familie versprach. Noch viel besser als die plitschplatschigen Wiesmann-Tunes gefiel mir allerdings, was Suzi Quatro machte: Lärm! Sie tat wild, spielte Bass in Lederoveralls und schrie rum. Ihr Starschnitt hing lebensgross über meinem Bett, Heldin meiner Frühpubertät – ich war verknallt, aber voll.

Hach. Suzi. Alle wollten mit ihr posieren.
Hach. Suzi. Alle wollten mit ihr posieren.

Wenn ich heute durch Neuhausen gehe, wirkt es ein bisschen angeschlagen. Das Haus, wo ich aufwuchs, steht noch, doch seit dem Tod meines Vaters ist es leer und verfällt langsam. Die Gemeinde schrumpfte, mutierte zur Agglo von Schaffhausen. Vieles verschwand, Läden, Häuser, Leute. Es mag Nostalgie mitspielen, aber ich liebe diesen Charme des leicht Abgetakelten, es gibt nach wie vor Nischen, schöne Ecken. Die Wohnungen sind günstig, und Neues ist hier einfacher möglich als anderswo.

Wuchs ich im Kaff auf? In einer Boomtown? Als Kind ist einem so was ja eh wurstegal.

Neuhausen war für mich vor allem eins: ein grosser Tummelplatz mit vielen Möglichkeiten Abenteuer zu erleben, Quatsch zu fabrizieren, zu spielen oder zu versuchen, sich einen Reim auf die Welt rundum zu machen. Diese Asozialisierung ohne Aufsicht von Autoritätspersonen wirkt bis heute nach. Ich mag das.

Frühling in der Schweiz, Frühling im Kaff:

1 / 42
Endlich ist er da! So schön ist der Frühling in der Schweiz
Der Frühling ist da und mit ihm: Die herrlichsten Instagram-Bilder der schönsten Orte in dieser Jahreszeit.
Bild: instagram/amlalbah
Auf Facebook teilenAuf X teilen

Mehr zum Thema Leben gibt's hier:

Alle Storys anzeigen
DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
twint icon
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Das könnte dich auch noch interessieren:
27 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
Hessmex
14.04.2017 20:57registriert Januar 2014
Schön die eigenen Jugenderlebnisse aus der Feder eines anderen zu lesen.
802
Melden
Zum Kommentar
avatar
CheGue
14.04.2017 23:16registriert Oktober 2015
Als ich den Bericht zu lesen begann, Jürg, da war ich mir sicher, irgend einmal wird Suzie Quatro auftauchen.......Natürlich klebte auch ich diesen Starschnitt!! Wir könnten jetzt wohl stundenlang pilosophieren und diskutieren..... bin mir fast sicher, dass auch ihr euch am 30. Okt. 1974 morgens um 4.00 Uhr vor dem Fernseher den Schlaf aus den Augen gerieben habt......Viele (ähnliche und gleiche) Geschichten haben sich in allen Landesteilen abgespielt. Und eins können die meisten behaupten:Woooow, hatten wir eine geile Kindheit! Danke dir für etwas Nostalgie....
750
Melden
Zum Kommentar
avatar
Sugarless
14.04.2017 21:23registriert Februar 2014
Sali Jürg
Danke für den Einblick in deine Jungend. Ausser dass es am Rheinfall war, könnte es vom mir sein. Ich war genauso Suzi und Russi Fan. Ausserdem hatten wir wohl auch den gleichen Coiffeur und Kleiderkasten, obwohl ich in der Aglo von Olten aufgewachsen bin. Naja, wir achtende schon damals auf eine individuelle Uniformiertheit.
630
Melden
Zum Kommentar
27
Hitze, heisse Preise und Norm-Core: Das war das erste Coachella-Wochenende
Am Freitag hat das Coachella-Festival in Palm Springs begonnen und somit international die Festival-Saison gestartet. So war das erste Wochenende.

In den 2010er-Jahren war das Coachella DAS Festival. Seit einigen Jahren hat es jedoch etwas an Glanz verloren. Trotzdem strömten am vergangenen Wochenende tausende von Menschen – darunter unzählige Influencer und Promis – nach Palm Springs an das Wüsten-Festival. Hier eine Übersicht, was wir Normalsterblichen dieses Wochenende verpasst haben.

Zur Story