In esoterischen Heilslehren spielen Energien und Schwingungen eine fundamentale Rolle. Das All-Eins, die göttliche Instanz, ist ein einziger Energieriese, der aussergewöhnlich hohe Schwingungen erzeugen kann. Esoteriker glauben also nicht an einen personalen Gott, sondern an eine universelle Energiequelle, die göttliches Licht ausstrahlt.
Diese angeblich heilenden Strahlen aus den kosmischen Weiten treffen zwangsläufig auf die Erde und versorgen spirituelle Sucherinnen und Sucher mit Prana, der kosmischen Ur-Energie. Doch nicht überall auf unserem Planeten sind die Strahlen gleich stark. Besonders spürbar sollen sie bei sogenannten Kraftorten sein.
Doch wo liegen diese geheimnisumwitterten Plätze? Was finden spirituelle Sucher dort?
Esoteriker schwärmen immer wieder aus, um Kraftorte zu suchen. Ihre Resultate überraschen wenig. Sie liegen meist dort, wo die Kurvereine gern eine Bank hinstellen, um die Aussicht zu geniessen. Fragt sich nur, weshalb dort die spirituellen Schwingungen besonders stark sein sollen.
Noch grundsätzlicher gefragt: Gibt es denn überhaupt solche übersinnlichen Energien?
Doch zurück zu den Kraftorten. Zu ihnen gehören schon mal alle Klöster. Aber auch Kirchen an erhöhten Standorten. Das Argument ist einfach: Die frommen Kirchenfürste und Mönche hatten früher angeblich noch dieses übersinnliche Sensorium und suchten entsprechende Standorte mit starker Strahlung aus.
Physikalisch nachweisen lassen sich die Schwingungen bei den Kraftorten nicht. Sie weisen keine besonderen magnetischen oder sonst wie gearteten Felder auf. Das ist die Chance für die Rutengänger. Bei ihnen schlagen die vermeintlich magischen Ruten bei Kraftorten heftig aus.
Mit den Schwingungen hat es nichts zu tun. Viel eher mit den Arm- und Händemuskeln, die die Ruten führen. Glaube macht bekanntlich selig, was auch auf Wünschelruten zutrifft.
Rutengänger dürften spätestens jetzt protestieren und einwenden, dass sie ein seriöses Handwerk ausüben würden. Ihre Disziplin nennt sich Radiästhesie, mit der angeblich Lebensenergie oder die feinstofflichen Kräfte gemessen werden können.
Dazu gibt es ein eigenes Messsystem mit Boviseinheiten. Die Skala reicht von 1 bis 10'000. Das klingt furchtbar wissenschaftlich, ist aber ein esoterisches Fantasieprodukt. Da diese Schwingungen nicht nachgewiesen werden können, kann sie auch kein Messgerät aufzeichnen.
Es ist nur schon ein Widerspruch in sich selbst, spirituelle Phänomene wissenschaftlich beweisen zu wollen. Sie sind entweder in der grobstofflichen Welt angesiedelt und mess- oder erklärbar. Oder sie sind übersinnlich und gehören ins Reich des Glaubens. Beides zusammen geht nicht.
Für Esoteriker sind solche Argumente Spitzfindigkeiten. Sie spüren die spirituellen Kräfte bei den Kraftorten mit dem Herzen, dem Bauch oder mit der übersinnlichen Intuition. Das reicht ihnen. Wissenschaftliche Erkenntnisse brauchen sie deshalb nicht. Zumal für sie die übersinnliche Welt wichtiger ist als die profane grobstoffliche Realität mit ihrem geophysikalischen Firlefanz.
Das Phänomen der Kraftorte kursiert aber nicht nur in der Esoterik, es ist auch für viele Medien und angesehene Institutionen von erheblichem Interesse. So fühlte sich etwa die Krankenkasse CSS bemüssigt, das Thema auf ihrer Homepage aufzugreifen. Dort steht wörtlich:
Oft gelten laut CSS markante, mythenumwobene Orte wie Quellen, Flussufer, Schluchten, Berggipfel, Höhlen, Felsen oder Lichtungen als Kraftorte. Diese sollen mittels Intuition oder Radiästhesie gefunden werden. Bei der Radiästhesie würde die Energie-Qualität eines Ortes durch Pendeln (Biometer) gemessen.
Immerhin gesteht die Autorin des Artikels, dass diese Messmethode subjektiv sei. Die Existenz dieser Strahlung sei naturwissenschaftlich nicht belegt.
Ja, liebe CSS. Eine Krankenkasse sollte alles Interesse daran haben, dass ihre Kunden mündige Patienten sind, die nicht an Hokuspokus glauben und abergläubisch sind. Denn es braucht Kritikvermögen und Selbstverantwortung, um sich im Gesundheitsdschungel zurechtzufinden. Schliesslich sind die kritischen Patienten, die unnötige Behandlungen hinterfragen und auch mal verweigern, die günstigsten Kunden.
Auch Schweiz Tourismus propagiert Kraftorte. Auf der Homepage myswitzerland.ch heisst es:
Es lohne sich, diesen speziellen, meist mystischen Plätzen einen Besuch abzustatten. Zu den empfohlenen Kraftorten gehört die Felsgrotte des Zentrums Emma Kunz, die sagenumwobene Wallfahrtskirche Heiligkreuz im Entlebuch mit den «mystisch-magischen» Erlebniswegen und dem Seelensteg oder die Abtei La Fille-Dieu am Jakobsweg im Kanton Freiburg usw.
Es besteht kein Zweifel, dass Orte mit der Aussicht auf eine atemberaubende Natur uns erfreuen und in uns Emotionen wecken. Solche Erlebnisse haben aber nichts mit den angeblichen übersinnlichen Schwingungen oder verdichteten Energien zu tun, sondern mit unserer gefühlsmässigen Ergriffenheit, ausgelöst von unseren Sinnen. Hirnphysiologen würden es noch nüchterner formulieren: Die optischen Reize lösen Sturzbäche von Glückshormonen wie Dopamin oder Serotonin aus.
Wie immer man die Erlebnisse interpretieren mag: Sie gehören zu den Essenzen des Lebens. Die übersinnliche Überhöhung ist dann ein Störfaktor, weil er den Aberglauben fördert.