Politik ist die Kunst, mit Vernunft und Augenmass die beste aller schlechten Lösungen zu finden. Gute PolitikerInnen sind Frauen und Männer, die ihr Ego an der Garderobe der Regierungszentrale abgeben und sich primär auf das Wohl des Volkes konzentrieren.
Ein aktueller Blick auf die politische Weltkarte zeigt aber, dass wir uns mit Lichtgeschwindigkeit von dieser Idealvorstellung entfernen. Nicht nur werden immer mehr Autokraten gewählt, nein, diese Egomanen sehen sich zunehmend als Heilsbringer, die wie Erlöser verehrt werden wollen. Hätten sie kein Bewusstsein von der eigenen Endlichkeit, würden sie sich wohl wie göttliche Wesen fühlen. Vielleicht tut es ja der eine oder andere auch.
Politik mit religiösen Attributen und Ansprüchen zu vermischen, ist eine Todsünde. Sie führt zu einer Machtballung und zu Machtansprüchen, die die Radikalisierung fördern und zu Exzessen führen. Die Islamisten, die das Kalifat anstreben, führen es uns plastisch vor Augen.
Es ist denn auch kein Zufall, dass sich manche Autokraten bei den Religiösen anbiedern. Donald Trump, einer der begnadetsten Sünder vor dem Herrn, schleimte sich bei den Evangelikalen ein – und gewann dank ihrer Stimmen die Wahlen. Während seiner Amtszeit überspannte er mit seiner Selbstdarstellung und seinem Allmachtswahn den Bogen und verlor die Wahlen. Doch seine unheilige Zeit könnte in drei Jahren erneut anbrechen.
Weitere Beispiele sind Bolsonaro, Erdogan, Orban und wie sie alle heissen. Diese Narzissten dulden zwar keine Götter neben sich, doch sie brauchen die Unterstützung der Gläubigen.
Selbst in Russland, einem atheistischen Staat, kommt der allmächtige Putin nicht umhin, den Orthodoxen zu huldigen. An hohen Festtagen lässt er sich gern mit den orthodoxen Patriarchen ablichten. In China hat die Staatspartei ohnehin einen quasireligiösen Status.
Da die meisten Autokraten in westlichen Ländern politisch rechts bis rechtsradikal angesiedelt sind, kommt es häufig zu Allianzen zwischen den Rechten sowie Religiösen und Pseudoreligiösen. Der gemeinsame Nenner: Straffe Hierarchien und autoritäre Strukturen. Strenggläubige und Rechtsradikale sind denn auch überdurchschnittlich autoritätsgläubig. Ungeachtet des Paradoxes, dass sie sich als die Hüter der Freiheit verstehen.
Doch nicht nur «die da oben» gieren nach Macht, seit der Coronapandemie lechzen «die da unten» ebenfalls vermehrt nach politischem Einfluss. Keine Überraschung ist, dass der Aufstand von unten Rechtsdrall hat. Man gewinnt sogar den Eindruck, dass die Trychler, Aluhüte, Verschwörungstheoretiker, Esoteriker, Anthroposophen, Anhänger der Alternativmedizin, Rechtsradikalen und teilweise christlichen Fundis in einen heiligen Krieg ziehen. Als stehe die Existenz des Planeten auf dem Spiel. Als gehe es um Sein oder Nichtsein.
Viele dieser Coronaleugner, Impfverweigerer und Agitatoren waren vor Corona eher unpolitisch. Doch nun schreien sie an den Demos und vor allem in den sozialen Medien ihren angestauten Frust in die Welt hinaus.
Diese leichtgläubigen Kämpfer für die Freiheit stecken mit ihren Fake News im Minutentakt verunsicherte Zeitgenossen an. Sie glauben lieber schwurbelnden medizinischen Laien als den Tausenden Experten, die weltweit in atemberaubenden Tempo forschen und ihre Resultate austauschen. Viele behaupten heute noch, es gebe gar keine Viren. Oder die Impfung erzeuge selbst die Krankheit. Oder auf den Intensivstationen lägen nur Geimpfte.
Oder Bill Gates, George Soros und der Rest einer angeblichen geheimen jüdischen Weltregierung hätten Corona ausgesetzt, um mit dem Impfstoff noch reicher zu werden, Chips zu implantieren, die Weltbevölkerung zu kontrollieren und zu dezimieren. Hilfe bekämen sie bei ihrem teuflischen Plan von den Reptiloiden, den ausserirdischen Reptilienwesen. Bei so viel Ignoranz sind argumentative Bemühungen sinnlos.
Die Hardliner unter den Coronaleugnern haben jegliches Vertrauen in den Staat und seine Behörden verloren. Deshalb planen sie eine Parallelgesellschaft mit eigenen Schulen, Spitälern und Krankenkassen. Sie behaupten teilweise, dass die Impfung die Corona-Symptome hervorrufen würden. Deshalb lägen in den Spitälern nur Geimpfte. Deshalb wollen sie einen Staat im Staat ausrufen.
An vorderster Front kämpft der Naturheilpraktiker und Impfkritiker Daniel Trappitsch für eine Parallelgesellschaft. Der Verschwörungstheoretiker der ersten Stunde war schon Meinungsführer der Bewegung «We are change Switzerland». Aus Protest weigert er sich, Steuern und Krankenkasse zu zahlen.
Dieses staatsfeindliche Gebaren erinnert in fataler Weise an die rechtsradikalen und völkischen Anastasiabewegung, die Identitären und Reichsbürger, die den Staat ebenfalls ablehnen und eine Parallelgesellschaft aufbauen wollen. Letztere führen bereits eigene Gerichte. In ihrer heiligen Mission haben sie auch schon Bürgerwehren aufgebaut und Gewalt gegen staatliche Behördenmitglieder ausgeübt.
Die Welt ist instabil geworden. So instabil wie vermutlich seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Mitverantwortlich ist auch die wachsende Tendenz, die Politik pseudoreligiös zu unterfüttern.