Das ist so ein «nie hätte ich gedacht»-Moment: ein neuer Lambo? Interessierte mich nie die Bohne. Bis jetzt. Und ich bin nicht der Einzige, denn seit der Enthüllung des neuen Lamborghini Countach LPI 800-4 (so heisst das Ding) herrscht helle Aufregung in der Autowelt.
Und dies aus einem einzigen Grund: Wegen des Namens. Denn hier handelt es sich um ein Relaunch des wohl ikonischsten Lamborghini-Modells aller Zeiten.
Ladies and Gentlemen, the Lamborghini Countach:
Ähem ... also, um es klarzustellen: Das hier gezeigte Bild ist nicht die Neulancierung, sondern das Original von 1971, das am Genfer Autosalon gezeigt wurde. Und wenn dieses Auto heute noch derart futuristisch erscheint, ist es kaum vorstellbar, wie das dem Publikum in den frühen Siebzigern eingefahren sein muss.
In vielerlei Hinsicht war der Lamborghini Countach das wichtigste Auto der Siebziger- und Achtzigerjahre. Zumindest in Sachen Schlafzimmerposter war er die unangefochtene Ikone seiner Ära. Er und das Foto der Tennisspielerin, die sich am Hintern kratzt.
Der Countach war also mehr Popstar als Auto. Und wie in der Promiwelt zwischen Stars und Superstars unterschieden wird, gibt es cars und supercars. Und der Lamborghini Countach war es, der definierte, was ein Supercar zu sein hatte:
sauschnell. Geradezu unanständig glamourös. Die Projektion unserer gemeinsamen Wunschträume. Und, ach ja, von Vorteil italienisch.
Klar, historisch und technisch gesehen ist es ja eigentlich der Vorgänger, der legendäre Lamborghini Miura von 1966, der das erste Auto des Supercar-Genres darstellte: Ein V12-Mittelmotor und ein Karosseriedesign, das Rennwagenästhetik mit Luxus kombinierte.
Doch mit dem Countach wurde die Ära der keilförmigen Supersportwagen eingeläutet. Exotisch und für uns Normalsterbliche absolut unerreichbar. Letzteres auch für jede Autobahnpolizei. Hey, in Hollywood basierte gleich eine ganze Filmprämisse darauf:
Ohnehin sind die ikonischsten Versionen des Countachs die späteren 1980er-Modelle Countach LP500 S oder LP5000 QV mit den verbreiterten Radkästen und dem Pfeil-Heckflügel – stilmässig perfekt passend zu den Schulterpolstern der damaligen Mode. Zu den weissen Anzügen, Gelfrisuren, Spiegelbrillen. Und dem Koks.
Jener Heckflügel ist sinnbildlich für so vieles am Countach: Er sah unglaublich schnittig aus, senkte aber in Wahrheit die Spitzengeschwindigkeit um mehr als 10 km/h. Ohnehin wurde das Auto aufgrund eines begrenzten Entwicklungsbudgets nie im Windkanal getestet. Alle die sexy Kurven, Winkel und Ecken des Wagens waren reine Spekulation, wenn es um die aerodynamische Optimierung ging. Der CW-Wert lag bei 0,42 womit der Lamborghini damit ungefähr so aerodynamisch wie ein Gartenhäuschen ist. Und die 300-irgendwas km/h Spitzengeschwindigkeit, die ihn zum Killer in jedem Top-Trumps-Autoquartett machte? Na ja, sagen wir mal, so richtig, richtig belegt ist da nichts.
Damals, als 1971 der erste Prototyp am Genfer Autosalon vorgestellt wurde, ging es vor allem darum, die Leistungsdaten des damals schnellsten Strassenautos der Welt zu übertreffen, des Ferrari Daytona. Hey, man konnte ja einfach mal irgendwas behaupten, denn überprüfen konnte das eh niemand. Zudem wollten ja alle daran glauben. Und zwar einzig und alleine aufgrund des Designs. Damals, als die meisten Autos immer noch so aussahen ...
... war der Countach etwas aus einem Science-Fiction-Film.
Er hatte Klappscheinwerfer. Und Scherentüren. Logisch war er der Schnellste.
Slideshow durchclicken für Design-Details!
Ferrari hatte sogenannte ‹racing pedigree›, eine stolze Renngeschichte, die der Marke ihre Daseinsberechtigung gab. Lamborghini? Nö. Enzo Ferrari war ein kauziger Ingenieur, der seine eigenen Strassenautos als blosses Mittel zum Zweck sah, um seinen Rennsport zu finanzieren. Insgeheim verachtete er seine bonzige Kundschaft. Ferruccio Lamborghini hingegen war ein erfolgreicher Unternehmer, der Traktoren, Klimageräte und Hubschrauber herstellte. Und als Besitzer einiger Ferrari-Sportwagen war er stets enttäuscht von deren Ausstattung und Fertigungsqualität gewesen. Seiner Ansicht nach waren das hastig ausgestattete, runtergetunte Versionen der Rennwagen.
Mit dem Countach, der 1974 erstmals in Produktion ging, verkaufte man der Kundschaft etwas anderes: pure Dekadenz. In der kollektiven Wahrnehmung war der Countach schon mal das schnellste Strassenauto der Welt. Und während ein Ferrari nach Motorenöl roch, roch ein Countach nach Champagner, Glamour und Sex.
Was freilich auch die Kehrseite des Images beflügelte. Seit dem Lamborghini Countach gilt: Wer sowas fährt, muss irgendwas anderes kompensieren. Und wir wissen ja alle, wovon wir hier reden.
Aber das ikonische Design von Marcello Gandini war – allen aerodynamischen Defiziten zum Trotz – zukunftsweisend wie kein Zweites für das Genre der Supercars. In der Nach-Countach-Ära musste jedes Supercar ein extravagantes Mittelmotordesign vorweisen, um dazuzugehören. Auch Ferrari, der alsbald mit seinem BB 512 nachzog. Doch die ausladensten, extravagantesten Designs gehörten stets Lamborghini. Nahtlos ging es nach dem Countach weiter mit dem Lamborghini Diablo, dem Murciélago und Aventador.
Und nun sind wir, pünktlich zum 50. Jubiläum der Präsentation des allerersten Countachs, beim Relaunch angekommen: Countach LPI 800-4 heisst der neuste Streich aus dem Hause Lamborghini und, oh ja, das Design ist mehr als nur ein bisschen an sein Namensvorbild angelehnt.
Technisch ist das Auto nahezu identisch mit dem absolut wahnwitzigen Lamborghini Sián FKP 37. Angetrieben von einem 6,5-Liter-V12, der zusammen mit einem Elektromotor per Mild-Hybrid-System auf insgesamt 814 PS kommt. Das Ding soll in 2,8 Sekunden von 0-100 km/h beschleunigen und eine Höchstgeschwindigkeit von 355 km/h erreichen.
Und, ja, es sieht grossartig aus.
Und ist trotzdem komplett überflüssig.
Mit dem Retro-Design ist es immer so eine Sache. Selten gelingt es gut. Beim Dodge Challenger hat's geklappt, beim Fiat 500 ebenfalls, beim VW New Beetle war's eine mittlere Katastrophe.
Challenger und Fiat 500 sind grosse Verkaufserfolge. Beim New Beetle war's etwas durchzogener. Doch dies dürfte Lamborghini egal sein; ebenso die Tatsache, dass Retro-Styling inzwischen selbst schon wieder retro ist (der Trend war in den Nuller-Jahren prominent). Vom neuen Countach werden genau 112 Stück produziert (eine Anlehnung an die ursprüngliche Projektbezeichnung LP112 von 1971). Und wisst ihr was? Alle sind bereits verkauft. Preisinformationen sind nicht öffentlich, aber Gerüchte besagen, dass man zwischen 1 und 3,5 Millionen Dollar hinblättern musste.
Und der Wiederverkaufswert dürfte nochmals grösser werden.
Somit ist der neue Countach weniger eine liebevolle Ode an eines der ikonischsten Autos der Geschichte als ein zynischer Business Case: Zum 50. Jubiläum eine Sonderausgabe des Autos, das der gutbetuchte Kundenstamm damals als Poster im Kinderzimmer hatte. Und wenn man die Produktion auf 112 Stück limitiert, kann man eh verlangen, was man will. It's a no brainer.
Mir geht es hier nicht um die Diskussion über der Sinn oder Unsinn von Supercars. Die sind nun mal komplett unsinnig, das ist seit je her unbestritten. Und imagemässig sowieso eine Katastrophe, da solche Autos scheinbar einzig und alleine von überprivilegierten Macho-Idioten des berüchtigten einen Prozents gefahren werden. Ebensowenig geht es hier darum, zu behaupten, der neue Countach sei ein schlechtes Auto. Gewiss ist er das Gegenteil – ein Triumph von Technologie und Design.
Und trotzdem ein Abklatsch.
Denn: Kontext ist alles. Die Wucht, mit der die Megabombe Countach 1971 einschlug, wird 2021 nie reproduziert werden. Die popkulturelle Bedeutung, die der Ur-Countach jahrzehntelang beanspruchen konnte, wird niemals erreicht werden. Heute sind andere Themen wichtiger. Über den Ur-Countach kann man (wie in diesem Artikel) stundenlang über dessen Ikonografie referieren. Beim Neuen kann man bloss Zahlen auflisten. PS, km/h, Dollar. Und somit bleibt der Lamborghini Countach LPI 800-4, dieses technologische Wunderwerk, letztlich ein Abklatsch. Irrelevant für das kulturelle Erbe der Marke, irrelevant für die heutige Welt. Schade.
Niemand kann sich seine Kindheit zurückkaufen. Auch nicht für 3,5 Millionen Dollar.