Heute weiss ich, dass nicht ich schuld war, sondern das System. Meine Pubertät verbrachte ich im Halbschlaf, zumindest in der Schule. In meiner Erinnerung liege ich von der achten bis zur zehnten Klasse mit dem Kopf auf der Tischplatte. Abends und nachts war ich topfit und blieb lange auf. Aufstehen musste ich aber um halb sieben, da blieb nicht viel Zeit zum Schlafen.
Lange Zeit dachte ich, dass es einfach mein Fehler gewesen sei, jetzt weiss ich: In der Pubertät gerät der Schlafrhythmus durcheinander. Für einen 16-Jährigen ist es eine Zumutung, um 8 Uhr morgens irgendeinem Unterricht zu folgen, sagt Schlafforscher Göran Hajak. Trotzdem verlegt kaum eine Schule die Anfangszeit des Unterrichts auf einen späteren Zeitpunkt.
Denn die Menschen, die etwas zu bestimmen haben in diesem Land, Politiker und Beamte, sind sogenannte Lerchen, also Frühaufsteher – sonst könnten sie ihre Jobs gar nicht machen. Wer könnte sonst morgens um 7 Uhr Interviews im Radiofunk geben? Die meisten Menschen suchen sich unbewusst einen Beruf, der mit dem jeweiligen Schlafrhythmus vereinbar ist, denn sonst leidet man ein Leben lang.
In die Machtpositionen kommen deshalb vor allem Lerchen. Dabei sind diejenigen, die früh aufstehen, nicht etwa besonders leistungsstark oder fleissig – die Eigenschaft morgens fit zu sein, ist angeboren wie die Haarfarbe. Aber mit ihrem Kartell bestimmen die Frühaufsteher, dass andere Menschen auch früh aufstehen müssen, indem sie die Öffnungszeiten der Ämter so gestalten, indem sie die Anfangszeiten der Schulen und Betriebe so festlegen.
Diese Menschen haben dafür gesorgt, dass in der Mittelstufe ganze Fremdsprachen und Geschichtsepochen an mir vorbeigezogen sind, ohne dass davon bei mir was hängen geblieben wäre. In Unter- und Oberstufe war ich ein passabler Schüler. Aber dazwischen eine Null. Wie gesagt, in der Pubertät spielt die innere Uhr verrückt, die meisten werden zu Langschläfern und Spätaufstehern.
Ich blieb es auch danach, bin also eine sogenannte Eule. Damit blieben mir die Traumjobs in Politik, Ämtern und Behörden also versagt. Auch grosse Firmen fallen damit für mich als Arbeitgeber flach. Lehrberufe und das Ärztedasein sind ebenfalls nicht attraktiv.
Ehrlich gesagt ist das für mich nicht schlimm, ich habe den richtigen Beruf mit dem richtigen Schlafrhythmus für mich gefunden. Andere Menschen können von mir aus so früh aufstehen, wie sie wollen, ich bleibe liegen. Aber, wie viele potenzielle Top-Politiker wird es geben, die dem Staat verloren gehen, weil sie nicht um 8 Uhr morgens fit sind zum Arbeiten?
Wie viele Ingenieurstalente mussten einen anderen Berufsweg einschlagen, weil sie nicht so früh aufstehen können, wie das deutsche Unternehmen erwarten? Und wie muss man sich fühlen, wenn man sein Talent nicht verwirklichen kann, weil man durch die Frühaufsteher-Lobby geknechtet wird?
Die Autorin Bettina Hennig hat in ihrem Buch «Der frühe Vogel kann mich mal» genauer dargelegt, welche negativen gesellschaftlichen Auswirkungen der Frühaufstehwahn hat. Am schlimmsten finde ich, dass diese Diktatur der Frühaufsteher nicht einmal Mitleid mit den Schülern hat. Was auch immer die Schlafforschung sagt – sie müssen sich weiter früh zum Unterricht quälen.