Der Mars, unser äusserer Nachbarplanet, hat schon immer eine eigentümliche Faszination auf uns ausgeübt. Je nachdem fürchtete man eine Invasion vom Roten Planeten oder sah ihn als lohnendes Ziel einer Kolonisierung durch den Menschen. Die Mars-Euphorie hält bis heute an: Der Mars ist das nächste grosse Ziel der bemannten Raumfahrt.
Aber warum eigentlich den Blick nicht etwas weiter in die Ferne richten? Wenn wir schon irgendwann extraterrestrische Kolonien gründen werden, warum dann nicht ein lohnenderes Ziel ins Auge fassen? Ein solches Objekt existiert tatsächlich: Es ist der Saturnmond Titan, der zweitgrösste Mond und der erdähnlichste Himmelskörper im gesamten Sonnensystem.
Experten wie der Raumfahrtingenieur Robert Zubrin haben den Saturnmond als mögliche Basis für Kolonien vorgeschlagen. Die Autoren Charles Wohlforth und Amanda R. Hendrix stiessen unlängst in einem Gastbeitrag in der Onlineausgabe der Zeitschrift «Scientific American» ins gleiche Horn.
Nun ist Titan nicht gerade ein Idyll. Klirrende minus 180 Grad Celsius beträgt die Oberflächentemperatur auf dem grössten Trabanten des Saturn. Dagegen sind die durchschnittlichen minus 55 Grad auf dem Mars geradezu gemütlich.
Aber wer den Film «The Martian» («Der Marsianer») gesehen hat, weiss, dass auch der Rote Planet kein Paradies ist. Was den Mars so ungastlich macht, ist aber nicht in erster Linie die Temperatur, sondern eine Tatsache, die meistens gar nicht eingehend zur Sprache kommt: Der Planet hat kein Magnetfeld und keine dichte Atmosphäre. Und das ist gefährlicher, als es klingt.
Das liegt an der galaktischen kosmischen Strahlung (GCR), die aus hochenergetischen Teilchen besteht. Auf der Erde sind wir durch das Wasser in der Atmosphäre weitgehend vor dieser Strahlung geschützt, doch die Marsoberfläche ist einem permanenten Bombardement dieser Teilchen ausgesetzt. Gemäss neusten Forschungsergebnissen besteht die Gefahr, dass die GCR nicht nur krebserregend ist, sondern auch das Gehirn schädigt.
Eine Kolonie auf dem Mars müsste aus diesem Grund nahezu vollständig unterirdisch angelegt werden. Und das wäre nicht nur teuer, sondern irgendwie auch witzlos – oder wie es Wohlforth und Hendrix formulieren: «Wir können auf der Erde unterirdisch leben. Was wäre der Vorteil davon, es auf dem Mars zu tun?»
Auf Titan dagegen schirmt das Magnetfeld des Gasriesen Saturn zumindest einen Teil des Sonnenwinds ab. Vor allem aber wären menschliche Siedlungen durch eine dichte Gashülle geschützt: Die Atmosphäre, die wie auf der Erde vornehmlich aus Stickstoff besteht, drückt mit 1,5 bar auf die Oberfläche – das ist rund 50 Prozent stärker als auf der Erde und entspricht etwa dem Druck, wie er fünf Meter unter Wasser herrscht.
Die Masse der Gashülle ist sogar grösser als jene der Erdatmosphäre, obwohl der Eismond mit seinem Durchmesser von 5150 Kilometern viel kleiner als die Erde mit ihren 12'750 Kilometern ist. Der hohe Druck bedeutet, dass ein Astronaut auf Titan zwar eine Atemmaske tragen müsste – und natürlich ziemlich warme Kleidung –, aber keinen Druckanzug benötigen würde.
Auch Fahrzeuge und Unterkünfte müssten nicht speziell für extreme Druckverhältnisse konstruiert sein, wie es auf dem Mond oder dem Mars der Fall wäre. Denkbar wären somit grosse, aufblasbare Kuppeln, in deren Innern warme Atemluft den Aufenthalt ohne Atemmaske erlauben würde. Solche Unterkünfte müssten freilich aufgrund der extrem niedrigen Aussentemperatur sehr gut isoliert sein.
Nicht genug damit: Ausser der Erde ist Titan der einzige Himmelskörper im Sonnensystem mit einem richtigen Flüssigkeitskreislauf. Der besteht allerdings nicht aus Wasser, sondern aus Methan und Ethan, die bei diesen tiefen Temperaturen flüssig sind.
Die Gase bilden Wolken in der Atmosphäre, die auf die Oberfläche abregnen. Vornehmlich in der nördlichen Hemisphäre gibt es Methanseen, deren Grösse jahreszeitlichen Schwankungen unterworfen ist.
Methan und Ethan wären nahezu unerschöpfliche Energiequellen: Die Kohlenwasserstoffe sind so reichlich vorhanden, dass ihre Menge auf das hundertfache aller bekannten Öl- und Gasvorräte auf der Erde geschätzt wird. Das Methan könnte zudem – zusammen mit dem reichlich vorhandenen Stickstoff und dem Ammoniak – als Dünger bei der Nahrungsproduktion dienen.
Für Trinkwasser ist ebenfalls gesorgt: Der Mond besitzt grosse Mengen von Wassereis; zudem gibt es flüssiges Wasser unter der Oberfläche. Möglicherweise schwappt tief unter der kilometerdicken Eiskruste sogar ein Ozean aus flüssigem Wasser. Aus dem Wasser liesse sich zudem relativ einfach Sauerstoff für die Atemluft gewinnen.
Da die Gravitation auf Titan nur gerade 14 Prozent der irdischen Anziehungskraft beträgt, würde dies Starts und Landungen von Raumfahrzeugen erleichtern. Menschen wäre es aufgrund der niedrigen Schwerkraft und der dichten Atmosphäre möglich, nur mithilfe von angeschnallten Flügeln zu fliegen.
Langzeit-Kolonisten müssten aber mit gesundheitlichen Folgen der niedrigen Gravitation rechnen. Insbesondere der Abbau von Knochen- und Muskelmasse könnte mit der Zeit zu erheblichen Problemen führen. Unklar ist, welche Auswirkungen die niedrige Schwerkraft auf ungeborene Kinder hätte.
All diese Kolonisierungspläne sind derzeit aber noch Zukunftsmusik der eher unwahrscheinlichen Art. Die enorme Distanz – der Saturn mit seinen Begleitern kreist in durchschnittlich 1,4 Milliarden Kilometern Abstand um die Sonne – führt zu extrem langen Reisezeiten. Die Cassini-Huygens-Mission, die 1997 startete, erreichte das Saturn-System erst 2004. Sollten Menschen zum Titan reisen, müssten sie über leistungsfähigere Raumfahrt-Technik verfügen.