«Lust auf Orgasmus» – als die drei Wörter auf meinem Computerschirm aufleuchten, seh ich nur noch Sterne. Ein zweitägiger Orgasmuskurs. Nur für Frauen. Das Kopfkino startet. Ohne jetzt in die Details zu gehen: Ich denke an mich beim Sex und ja, ich kann kommen, das öfter, aber nicht immer gleich gut.
Manchmal fühlt es sich unmittelbar nach dem Orgasmus wie eine Rakete an, deren Antrieb abrupt ausfällt und für die es nur noch einen Weg gibt: Im Highspeed nach unten. Richtung Leere, direkt auf den Boden der Tatsachen und ins «Warum hab ich mir überhaupt die Mühe gemacht».
Keine Frage also, ich melde mich für den Do-it-yourself-Kurs an. Und ich träume ganz gross. Von Orgasmen, die nie, nie mehr aufhören. Von Glücksgefühlen, die alles Bier der Welt überflüssig machen. Ich freue mich drauf. So krass, dass ich mir schon mal den «Zeit»-Podcast «How to orgasm» anhöre. Man will ja vorbereitet sein. Vorfreude: gross. Erwartung: riesig.
Ich bin in guter Gesellschaft. Frauen interessieren sich immer mehr für ihre Sexualität. Das zeigt sich an solchen Kursen, es werden gefühlt immer mehr. Zahlen dazu gibt es keine, fest steht nur: Vor 20 Jahren kannte man derartiges nicht. Heut finde ich im Netz auf Anhieb allein in der Region Zürich drei Anbieter. Alle gut besucht, wie es heisst.
Auch Amorana kann sich nicht beklagen. Der Online-Erotikshop verdient gerade an der weiblichen Käuferschaft gut. Die Kundinnen überflügeln die Kunden sogar. 2014 lag der Frauenanteil bei 52 Prozent, 2017 bei 56 Prozent. Geschäftsführer Alan Frei erklärt das gesteigerte Interesse an seinen Spielzeugen mit dem Erotikfilm «Fifty Shades of Grey». «Das führte zu einem Erwachen der Frauen.»
Anders sieht es die Psychologin Laura Mernone. Sie forscht derzeit an der Universität Zürich zur Sexualität von über 40-jährigen Frauen. Nicht der Film habe das gesteigerte Interesse an der eigenen Sexualität ausgelöst, sagt sie. Dieser und die steigenden Verkaufszahlen würden zur gesellschaftlichen Veränderung des weiblichen Rollenbildes passen. «Die Frauen wenden sich vermehrt sich selbst zu und sie wollen geniessen.»
An einem Donnerstag im Januar finde ich mich auf einer Yogamatte wieder. Im Seminarraum der Boutique Sensuelle mitten im Zürcher Kreis 4. An der Wand steht ein weisses Sofa mit grossen, dicken Kissen, daneben brennt eine Kerze. Liebeskugeln und ein Couple-Vibrator liegen irgendwo herum. Beides edel verpackt. Das alles wandert jetzt immer weiter weg. Da liegen wir nun, in bequemen Kleidern, mit geschlossenen Augen, mit dem Rücken auf dem Holzboden. «Wir» sind neun Frauen.
Die klinische Sexologin Sonja Borner sitzt auf einem alten Holzstuhl und leitet uns an. Wie bei einer geführten Meditation. Die Psychologin und «Blick»-Sexberaterin Caroline Fux schreitet leise durch den Raum und hilft, die Bewegungen korrekt auszuführen. Wie im Yoga.
Zuvor klärten die beiden uns ausführlich über die Vagina und Formen von Orgasmen auf. Für mich: ein Aha-Erlebnis nach dem anderen. Wir erfuhren, dass die Vagina aus viel mehr besteht als nur der Lusterbse und dass sie mit ihren Schenkeln sogar in den Körper hinein ragt. Dass manche Frauen einfach die Beine übereinanderschlagen, zusammenpressen und innerhalb einer Minute kommen können – um Stress abzubauen. Wie praktisch! Mehr aber nicht. Oder, dass sich die meisten Frauen immer nur durch die gleiche Technik ein High verschaffen. Der Nachteil: ein falscher Handgriff, und tschüss Lust! Ich will definitiv woanders hin. Ich will eine langsam steigende Erregung, eine lange anhaltende Supergeilheit, die in einem orgasmischen Feuerwerk gipfelt.
Deshalb liege ich am Boden des Seminarraums und höre zu. Wir beugen zuerst einmal unsere Knie, stellen unsere Füsse auf den Boden und drücken sie in die Matte.
Das Becken rollt leicht nach oben, während der untere Rücken auf der Matte kleben bleibt. Dann sollen wir loslassen, entspannen, bis zum nächsten mal, Becken nach oben rollen ... Und das immer wieder. Jeden Tag. Ich seh's gar nicht: Wie soll mich das antörnen? Wo ist mein Super-Orgasmus? Mir fällt der Flipchart ein, den Sonja ganz am Anfang mit unseren Erwartungen gefüllt hatte. Ganz gross stand da: IMMER EINEN ORGASMUS HABEN. Eine von uns hatte das gesagt, wir anderen nickten. Logo! Was sonst? Mittlerweile schwant mir: Da kommt viel Arbeit auf mich zu. Ich schwitze.
Aber ich bin auch stolz auf mich. Andere schaffen es gar nicht erst bis hierher, bis zum Eingeständnis, dass bei der eigenen Befriedigung noch Luft nach oben ist. Auch nicht bis in den Kurs. «Ich dachte, dass ich die Älteste sei. Dass nur junge Frauen in ihren Zwanzigern mitmachen würden», sagt eine der Teilnehmerinnen, während sie in die Runde schaut. Zurück blinzeln fast nur Frauen, die älter als 45 sind. Die Generation Y ist mit mir und einer anderen schwach vertreten, die Z-Frauen fehlen ganz. Ein Spiegel der Gesellschaft? Studien zu Masturbation zeigen, dass Frauen (die überhaupt onanieren) um die 50 sich noch einmal für ein paar Jahre richtig gerne selbst anfassen. Das oft. Während sie es in jüngeren Jahren weniger häufig tun.
Jetzt muss Masturbation noch nichts heissen, aber: «Ich erlebe in meiner Praxis viele Frauen, die sich in der Lebensmitte noch mal neu sortieren. Dazu gehört die Sehnsucht nach einer erfüllteren Sexualität», sagt Sandra Konrad, die sich als Psychologin und Sachbuchautorin mit Frauenthemen auseinandersetzt (siehe Box). Das kann man so lesen: In jüngeren Jahren sind Frauen zuerst einmal mit der Ausbildung beschäftigt, mit Karriere, Erfolg. Und etwas später dann damit, einen Mann zu finden, diesen zu halten und mit ihm Kinder zu kriegen.
Das klingt nach Angelika, sie nimmt ebenfalls am Kurs teil. Sie ist 30 und hat während der letzten zehn Jahre vor allem eines gemacht: Ausbildung um Ausbildung abgeschlossen. So musste sie sich nicht mit sich und ihrer Sexualität auseinandersetzen, wie sie sagt. «Ich hatte immer weniger Lust auf Sex.» Ihr langjähriger Freund wollte und will aber mehr, mehr Sex und mehr Intimität. Beide sind gestresst. «Ich mache immer gleich zu, sobald er etwas versucht. Und ihm löscht es ab.»
Der Druck ist gross. So gross, dass sich Angelika zeitweise immer mehr zurückzog. Sich nicht mehr schminkte, nicht mehr weiblich anzog. «Ich wollte mich nicht mehr attraktiv fühlen.» Die junge Frau nimmt nicht wegen multipler Orgasmen am Kurs teil. «Ich will mir, meinem Körper, meiner Weiblichkeit wieder näherkommen.»
Ruth, 48, kann nicht verstehen, dass nicht mehr junge Frauen teilnehmen. «Ich dachte immer, die hätten es begriffen.» Begriffen, dass man sich als Frau um die eigene Lust kümmern muss. Gerade in der heutigen Zeit, wo man in der Öffentlichkeit immer wieder über die Selbstbestimmung der Frau spreche. «Als ich jung war, gab es das nicht. Über unsere sexuellen Wünsche zu sprechen, war verpönt.» Ruth wusste lange nicht, «dass Sex einer Frau Spass machen kann». Als ihre Mutter an Krebs erkrankte und eine Brust amputieren lassen musste, dachte sie: Die braucht sie in dem Alter sowieso nicht mehr. Die Mutter war damals 40, Ruth 15. Alles änderte sich, als sie selbst 40 wurde. Sie beendete ihre damalige Beziehung, zog aus dem Einfamilienhaus aus. Den Hund behielt sie. «Ich wollte mehr vom Leben als das, was ich hatte.» Auch mehr als Sex, der nur dem Mann gefällt. Sie fing an, mit Freundinnen über ihre eigene Sexualität zu sprechen. Und merkte: «Wir alle schämten uns davor.» Seither will sie sich sexuell weiterentwickeln, wie sie sagt. «Deshalb bin ich hier.»
So wie Ruth geht es längst nicht allen. Auch wenn sie am Kurs teilnehmen. Einige der Frauen haben sich schon lange nicht mehr selbst befriedigt. Ich komme ins Grübeln: Wann war bei mir das letzte Mal? «Ihr lernt hier, euer Geschlecht so zu berühren, dass euer vaginaler Innenraum langsam erwacht», sagt die Kursleiterin Caroline. Und Kollegin Sonja zeigt, wies geht. Anhand ihrer Hand, die sie zu einer Vagina formt. Zu Hause sollen wir zuerst aussen die Schamlippen streicheln, dann uns über den Klitoris-Bereich Richtung Vagina-Eingang vorarbeiten. Studien zeigen, dass 30 Prozent der Frauen einen vaginalen Orgasmus erleben, die anderen haben ausschliesslich einen klitoralen. Laut Caroline, weil das Hirn die Option «vaginales Fühlen» gar nicht abgespeichert hat. Weil wir Frauen uns der Vagina zu wenig widmen. Die Arbeit dem männlichen Penis überlassen.
Warum eigentlich? Die Antwort ist einfach: Scham. «Die fängt beim eigenen Körper an, der oft als ungeliebte Baustelle empfunden wird», sagt die Psychologin Sandra Konrad. Viele Frauen schämten sich für ihre Leibhaftigkeit. Und ihre Fantasien. Weil sie mit all dem den gesellschaftlichen Erwartungen widersprechen. «Die ideale Frau soll heute sexy und sexuell aktiv sein, aber ohne zur Schlampe zu werden und ohne den Mann sexuell zu überfordern.»
Diese Scham spüren auch die Forscher der Universität Zürich. Von den verschickten Fragebögen an Frauen kamen nur 75 Prozent vollständig ausgefüllt zurück. Die anderen kniffen bei den kniffligen Fragen zu Häufigkeit des Orgasmus, dessen Dauer, Zufriedenheit oder Feuchtigkeit der Vagina. «Einige haben uns geschrieben, dass ihnen die Fragen zu privat sind», sagt Laura Mernone. Obwohl die Befragung anonym durchgeführt wurde.
Ich kehre in mich. Und es sieht schlimm aus: Ausgerechnet ich, die hier über ihren Orgasmus schreibt, bin voller Scham. Ich erinnere mich. Als die Jungs mit 15 Pornoheftli mit zur Schule brachten, lasen wir Mädchen das «Bravo». Manchmal schauten wir uns ganz verschämt die Rubrik «That’s Me» an. Da posierten jeweils zwei Teenies nackt für die Kamera. Wir taten das heimlich. Die Jungs hingegen plauderten im Zeichenunterricht locker über den Badewannensex mit der Freundin oder über ihre Morgenlatte. Sie prahlten. Und wir Mädchen hielten die Klappe. Ganz ehrlich: bis heute. Wir Freundinnen sprechen kaum über unser Sexleben.
Zwei Tage Kurs und ich bin runter von meinem Orgasmus-Optimierungs-Trip. Ich will immer noch einen super tollen Orgasmus. Logo. Aber der fängt mit etwas ganz anderem an: Sich wohl im eigenen Körper, gut, sich sexy zu fühlen. Das macht mir Sonja am Schluss bewusst: «Mir haben die Übungen geholfen, meinen Körper zu akzeptieren.» (aargauerzeitung.ch)