Die Arme sind gestreckt. Der Kopf leicht schief. Der Mund verzieht sich, bis er dem Gesicht den gewünschten Ausdruck verleiht. Angepisst, glücklich, gleichgültig, genervt. Ein Selfie.
Zweifelsohne ist der Kult um die «Frontkamerabilder» ein polarisierender. Für die einen sind Selfies Nahrung fürs Selbstwertgefühl, andere finden sie nur entwürdigend, wieder andere sehen sie als Ikonen des zeitgenössischen Feminismus oder als Sinnbild des narzisstischen Zeitgeistes. Doch kann das trashig-digitale Selbstporträt auch als Kunst verstanden werden? – «Ja», meint die Künstlerin Juno Calypso. Gegenüber dem online-Magazin «i-D» sagt sie:
Juno Calypsos Kunst befasst sich ausschliesslich mit der zeitgenössischen Form der Selbstporträts. Die Londonerin ist Teil einer fünfköpfigen Jury, die sich im Auftrag der renommierten Saatchi Gallery durch 14'000 Selfies gearbeitet hat. Seit Januar reichen Menschen aus 113 Ländern ihre kunstvollsten Selbstporträts unter dem Hashtag #saatchiselfie für einen Wettbewerb ein.
Der Rest des Fundus, der ein Spektrum von «Badezimmer-Spiegelselfies» bis zu semi-professionellen Montagen abdeckt, wird nun in der aktuellen Ausstellung «From Selfie to Self-Expression» gezeigt.
Die Kuratoren des Projekts fragen sich: «Was macht ein Selfie zur Kunst? Welche Rolle spielt das Smartphone im Zusammenhang mit Selbstinszenierung? Und wie hat sich die Kunstform des Selbstporträts im Wandel der Technik verändert?» Die Saatchi Gallery schreibt dazu:
Nebst der aktuellen Selfie-Kultur beschäftigt sich die Ausstellung auch mit der Geschichte der Selbstbildnisse als Kunstform. Die Werkauswahl führt vom barocken Porträtmaler Rembrandt bis zur trashigen Selfiequeen Kim Kardashian.
Zudem finden auch Werke aus der modernen und zeitgenössischen Kunst Platzt im Ausstellungsraum. So zieren Frida Kahlos berühmte Monobraue und Cindy Shermans strenge Miene die Wände der Saatchi Gallery in London.
Heute braucht es ein paar Sekunden, einen Klick, die Wahl eines geeigneten Filters, damit ein Selbstporträt entstehen kann. Vor der digitalen Fotografie dauerte dieser Entstehungsprozess unter Umständen mehrere Tage, er war mit viel Handwerk und Aufwand verbunden.
Kann etwas so Einfaches als Kunst bezeichnet werden? Man müsse nicht das einzelne Selfie als Kunst verstehen, sondern die ganze Form, führt Juno Calypso in einer Werkbesprechung aus. Sie erklärt das so:
Deutlich kritischer sieht Dawn Woolley den Selfie-Kult. Wooley ist die Gewinnerin des Saatchi-Wettbewerbs, bei dem Calypso jurierte. Das Bild zeigt Woolleys Ehemann, der eine lebensgrosse, ausgedruckte Version der Fotografin, also seiner Frau, umarmt.
Gegenüber dem «Independent» bezeichnet Dawn ihr Bild als «Selbstporträt, bei dem das Selbst nicht anwesend ist.» Sie führt weiter aus, dass Selfies, obwohl sie eigentlich die Realität widerspiegeln müssten, oft von Normen verzerrte Aufnahmen seien: «Das Selbst – das Motiv und Fotograf zugleich ist – verschwindet von der Bildfläche und weicht einer Illusion: Wir zeigen uns beim Wandern, obwohl wir die Natur eigentlich hassen. Oder als verliebtes Pärchen, obwohl wir eigentlich mit Beziehungsproblemen kämpfen.»
Was mit Sicherheit real ist, ist die Tatsache, dass jegliche der ausgezeichneten Selfies keine «typischen» Frontkamerbilder sind. Sie sind im Gegenteil zum letzten Bild, das wir mit dem Neffen auf dem Schoss oder der Katze im Genick von uns geschossen haben, Produkte einer künstlerischen Auseinandersetzung. Eine Auseinandersetzung, die es braucht, um Kunst zu generieren. Das Tolle daran: Mit dem Smartphone bewaffnet haben wir alle das Potential dazu.
Die Ausstellung «From Selfie to Self-Expression» ist noch bis Ende Mai in der Saatchi Gallery in London zu sehen.
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