Angst ist überlebenswichtig. Ohne dieses «Grundgefühl, das sich in einer als bedrohlich empfundenen Situation als Besorgnis äussert» (Wikipedia), könnten wir auf Gefahren nicht genügend schnell reagieren und hätten in vielen Situationen wohl kaum eine Überlebenschance. Auslöser von Angst sind aber nicht nur Bedrohungen unserer körperlichen Unversehrtheit, sondern auch der seelischen, unserer Selbstachtung und unseres Selbstbildes.
Von einer Angststörung sprechen wir, wenn die Ängste krankhaft übersteigert und/oder nicht rational begründbar sind. Laut der Schweizerischen Gesellschaft für Angst und Depression SGAD leidet in der Schweiz jeder fünfte Mensch irgendwann im Laufe seines Lebens an einer Angststörung. «Bei der Entwicklung einer solchen spielen anhaltende Stresssituationen und emotionale Belastungen eine wichtige Rolle», sagt Dr. med. Joe Hättenschwiler vom Zentrum für Angst- und Depressionsbehandlung Zürich ZADZ. Dabei muss der Inhalt der Störung nicht zwingend etwas mit dem Auslöser zu tun haben. «Sie können sich auch auf ganz andere Bereiche und Themen richten», so Joe Hättenschwiler. Das heisst, Erfahrungen mit Gewalt führen nicht automatisch zu Angst vor Gewalt, sondern können auch beispielsweise eine soziale Phobie zur Folge haben. Auch genetische Faktoren spielen eine Rolle. Hättenschwiler: «Sie begünstigen eine Überempfindlichkeit des Angstzentrums und seiner Schaltkreise im Gehirn.»
Worauf auch immer man mit übertriebener Angst reagiert: Bei ernsten Anzeichen lohnt es sich immer, frühzeitig professionelle Hilfe zu holen, mit der man schrittweise lernt, sich seinen Ängsten zu stellen. Denn wenn man versucht, die Situationen, die einem Angst machen, zu vermeiden, fördert das das Aufrechterhalten der Angst. «75 Prozent der Menschen mit einer Angsterkrankung suchen keine Hilfe auf», sagt Joe Hättenschwiler. «Dabei kann den meisten Betroffenen sehr gut geholfen werden.» Aber ab wann ist Angst denn eigentlich eine Störung? Der Experte beurteilt drei Situationen. Eine davon ist meine eigene Erfahrung, die andere betreffen Bekannte von mir.
Ich weiss sogar, woher sie kommt, meine total unbegründete Angst vor Zahnärzten. Ich war sieben, der Wackelzahn wollte einfach nicht raus und der neue war schon ein gutes Stück nachgewachsen. Der Zahnarzt, offenbar ein nicht mit sehr viel Empathie gegenüber Kindern gesegnetes Exemplar, hielt mir mit der einen Hand den Mund auf und drückte, ohne ein Wort der Vorwarnung, den Zahn mit dem Daumen der anderen Hand raus. Da er mir den Kiefer hielt, konnte ich den Zahn nicht ausspucken und schluckte ihn runter, zusammen mit gefühlten Litern von Blut. Ich hab heute noch diesen Geschmack im Mund. Und er kommt wieder, jedes Mal wenn ich eine Zahnarztpraxis betrete. Ich hatte lange Zeit das Glück, mit sehr gesunden Zähnen gesegnet zu sein. So ging ich jahrelang nicht mal zur Kontrolle. Bis sich meine Weisheitszähne meldeten. Alle vier aufs Mal. Ich ging erst zum Zahnarzt, als der Schmerz unerträglich wurde. In vier scheinbar endlosen Behandlungen hat mich dieser – im übrigen sehr nette und einfühlsame – Held von diesen Störenfrieden befreit. Und siehe da: Mit jedem Mal empfand ich den Gang in die Praxis als weniger schlimm. Heute habe ich ein, für meine Verhältnisse, recht normales Verhältnis zu Zahnärzten. Ich mag sie immer noch nicht besonders, aber der Gedanke löst keine Panik mehr aus.
«Mit Ihrer Reaktion auf eine solche Zahnentfernung sind Sie in bester Gesellschaft. Nicht umsonst haben viele Menschen auch als Erwachsene Angst vor dem Zahnarzt. Klar wäre es besser, möglichst früh zum Zahnarzt zu gehen, aber Sie haben es ja dann doch gemacht und ihre Angst vermindern können. Heute werden Zahnärzte im Studium auf die Phobie sensibilisiert, es gibt sogar Praxen, die auf besonders ängstliche Patientinnen und Patienten spezialisiert sind. Wer unter Zahnarzt-Phobie leidet, soll diesem seine Angst vor der Behandlung gestehen. Auch Entspannungsübungen können helfen.»
Nennen wir sie Lisa. Das Mädchen ist 17 Jahre alt und die Tochter einer Freundin von mir. Sie hat pinke Haare, trägt kurze Röcke und klobige Schuhe, wirkt taff und selbstbewusst. Alles an ihr schreit: «Schaut mich an!» Und sie freut sich über Komplimente zu ihrem Aussehen, ihren Klamotten, ihrem Make-up. Solange sie sich in ihrem gewohnten Umfeld bewegt. Kaum verlässt sie dieses sichere Gebiet, benimmt sich Lisa wie ein aufgescheuchtes Reh im Scheinwerferlicht. Geht man zum Beispiel essen, kann sie sich kaum auf ein Gespräch am Tisch konzentrieren, schaut rechts und links, versucht, sich hinter Speisekarten zu verstecken. «Die schauen mich alle so blöd an». Der Satz fällt gefühlte hundertsiebzig mal an einem solchen Abend. Dabei schaut niemand. Ihre Mutter hat sogar wieder angefangen, Lisa im Auto zu chauffieren, weil die Fahrt in den öffentlichen Verkehrsmitteln für den Teenager die totale Tortur ist. Orte, an denen Lisa auf neue Leute treffen müsste? Unvorstellbar. Dabei war sie als Kind der totale «Social Butterfly», hat sich mit jedem und jeder schnell angefreundet. Seit wann Lisa diese Ängste hat, kann ihre Mutter nicht sagen. Sie haben sich langsam eingeschlichen. Lisas Mutter ist ratlos. Wie kann man ihr helfen?
«Es sieht ganz danach aus, als würde Lisa unter sozialen Ängsten leiden. Solche Menschen fürchten, von anderen als merkwürdig, peinlich oder lächerlich empfunden zu werden. In der späten Pubertät, in der gerade Mädchen eine ausgeprägte Selbstbeobachtung haben, kommen soziale Ängste häufig vor. Schüchternheit, überhöhte Erwartungen an sich selbst, ein negatives Selbstbild, aber auch belastende Ereignisse können da eine Rolle spielen. Wichtig ist, die Symptome ernst zu nehmen. So ist es für Lisa wahrscheinlich schon eine Erleichterung, zu erfahren, dass viele andere Menschen das gleiche Problem haben, und dass sich die Symptome verlieren können. Falls das nicht der Fall ist, lohnt es sich, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. In der Therapie übt Lisa, ihre Gedanken zu analysieren und umzustrukturieren, um angstmachende Gedanken durch weniger bedrohliche Denkmuster zu ersetzen.»
Ich nenne ihn Tobi. Wir sind alte Schulfreunde, wohnen mittlerweile recht weit auseinander, aber wann immer ich in seiner Nähe bin oder er in meiner, treffen wir uns auf einen Kaffee. Vor einiger Zeit, mitten im Gespräch, schnappt Tobi nach Luft. Presst «mir ist übel» raus und rennt Richtung Bad. Beim ersten Mal dachte er, er hätte einen Herzinfarkt, oder einen epileptischen Anfall, erzählt Tobi später. Beim zweiten und dritten Mal auch. Der Arzt sagte jedes Mal, es sei «alles in Ordnung». Beim vierten Mal ging Tobi zu einem anderen Arzt. Auch er fand nichts Körperliches. Aber: «Kann es sein, dass Sie Panikattacken haben?» Sie kommen aus dem Nichts, Tobi hat keine Ahnung, was sie auslöst. Was er ahnt – und ich auch: Seine Kindheit, geprägt von häuslicher Gewalt und Suchtproblemen seines Vaters – ist sicher nicht spurlos an ihm vorbeigegangen. Aber ist seine Kindheit wirklich der Auslöser für die Attacken? Und warum jetzt? Tobi ist 45, hat sich gerade von seiner langjährigen Partnerin getrennt. Aber es ist nicht das erste Mal, dass eine Beziehung in die Brüche geht in seinem Leben. Kann das tatsächlich der Grund sein? Für mich ist klar: Er braucht Hilfe. Man kann nicht mit regelmässigen Panikattacken leben. Er selbst hadert noch. Ich hoffe, nicht mehr allzu lange.
«Nicht selten weisen Menschen mit traumatischen Erlebnissen in der Vergangenheit Komorbiditäten auf, die sich als Angst- oder Bindungsstörungen, Depression oder Suchtverhalten äussern. Panikattacken können tatsächlich aus dem Nichts auftreten, aber auch durch Schlüsselreize wie grosse Menschenansammlungen oder enge Räume ausgelöst werden. Für Tobi ist eine gute ärztliche Abklärung wichtig. Wichtig ist für ihn auch, zu erfahren, dass er selbst einiges zur Behandlung beitragen kann. So begünstigt andauernder Stress die Entwicklung von Panikattacken. Sport baut Stresshormone ab, aber auch genügend Schlaf und eine ausgewogenen Ernährung wirken vorbeugend, genau wie die Reduzierung von Koffein, Tabak und Alkohol. Wer unter Panikattacken leidet, dem kann mit einer Psychotherapie geholfen werden, allenfalls kombiniert mit Medikamenten.»
Habt ihr Erfahrungen mit Angststörungen? Wie geht ihr damit um? Wie habt ihr sie überwunden? Würdet ihr dies mit uns in den Kommentarspalten teilen?