17 Uhr 30 in einer Zürcher Strassenbahn:
Mit dem Rest der Stadt befinde ich mich auf dem Heimweg. Neben mir sitzt ein kleines Kind, guckt fragend zu mir hoch. Ohne zu zögern greife ich in meine Tasche und zücke mein Handy. Der Junge loggt sich ein, findet rasch seine App und beginnt Alligatoren, Gorillas und Häschen zu piksen. Mein lächelnder Blick wandert hoch, bleibt an der älteren Dame uns gegenüber hängen und erstarrt. Eiseskälte und Verachtung schlägt mir entgegen ... Was habe ich falsch gemacht? Hosenladen offen? Popel an der Backe?
Viel schlimmer: Ich habe mein Kind gegenwartsgetreu behandelt und ihm nicht, was sozial adäquat gewesen wäre, ein Holzspielzeug in die Hand gedrückt.
Mein Sohn ist grade mal drei Jahre alt und gewisse Dilemmas liegen glücklicherweise noch in einer effektiv ausgeblendeten Zukunft. Doch die Fettnäpfchen lauern hinter jeder Ecke. Falltüren, wo man hinblickt.
Der Zwerg tanzt und singt gerne, ist – eventuell etwas zu – empathisch, hat viel Phantasie, kann laufen, zwei Sprachen sprechen und findet mit dem Löffel seinen Mund. Zumindest meistens. Alles gut? Mitnichten.
Denn er gehört zu jener Generation, die vermutlich nicht mal mehr wissen wird, was Fernsehwerbung ist. Und zwar, weil er noch nie einen Fernseher gesehen hat. Und über Kassetten und Bleistifte brauchen wir an dieser Stelle gar nicht reden. Was er allerdings hat, ist ein eigenes iPad. Das Teil wurde liebevoll BabyBär getauft. Und er kommt wunderbar damit klar. Er kennt den Code, spielt seine Spiele, weiss wie er auf Netflix an seine Serien rankommt und wie man einen Videoanruf annimmt.
Aber dass Technologie der Teufel ist, scheint bereits Allgemeinwissen zu sein, wenn man denn nach den Blicken geht, die mir sicher sind, wenn ich meinem Kleinen im Bus mein Handy reiche, damit er sich auf Netflix seine Lieblingsserie angucken kann.
Ich könnte mir genauso gut im Café eine Zigarette anzünden oder im Fahrstuhl einen fahren lassen. Meinem Umfeld scheint klar zu sein: Ich komme in die Hölle.
Mein Handy, mein Tablet sind integraler Bestandteil meines Alltags. Zeitungen, Magazine, Mail, Nachrichten, Telefonieren, Videochat, Texten, Karten, Tickets, Hotelbuchungen, Übersetzungen, Notizen, Arbeitspläne ... es gibt kaum noch Bereiche, in denen ich nicht auf die kleinen Superrechner vertraue. Und während ich es zu jeder Gelegenheit zücke; wie und vor allem warum verdeutliche ich meinem Sohn, dass er das natürlich nicht dürfe? Dass er lieber im Garten spielen sollte, während es hier die dritte Woche in Folge regnet? Dass er in der Strassenbahn lieber aus dem Fenster gucken soll oder die grauen Nasen studieren, die sich mit der Faust im Gesicht durch den Pendlerverkehr drängeln?
Warum genau soll mein Kind nicht mit aktiver Geste unterschiedliche Tiere benennen? In mehreren Sprachen? Warum sollte er denn bitte nicht mit allen anderen Kindern im Spielabteil des Interregio im Kreis auf dem Boden liegen und seine Lieblingsserie teilen?
Es mangelt nicht an Ratgebern, die vor der Schädlichkeit der neuen Geräte für die Entwicklung von Kleinkindern warnen. Der Hirnforscher Manfred Spitzer ist ein vehementer Gegner von neuer Technologie in Kinderhänden und von speziell für Kinder designten Apps erst recht. Er mahnt, dass man einem Heranwachsenden erst zwischen dem 15. und 18. Lebensjahr ein Tablet in die Hand geben sollte ... echt jetzt? Er wisse selber, dass das etwas lebensfremd wirke. Etwas?!
Wenn ich sehe, wie mein Sohn manchmal reflexartig über die Seiten seines Kinderbuches wischt, bis ihm einfällt, dass Blättern hier anders funktioniert, dann wird diese Ausblendung der Realität schlicht lachhaft.
Wo man nachliest, wird vor dem Zombie-Effekt gewarnt. Ohne zu bemerken, dass wir auch schon nicht ansprechbar waren, als wir damals mit Winnetou durch die Prairie ritten.
Mein Kind lacht und erfindet Lieder. Er tanzt und geht ohne Scheu auf Menschen zu. Er fliegt für sein Leben gern, hat sich eben erst eine neue Sprache ausgedacht und angefangen zu bouldern ... und er liebt Shawn, das Schaf. Er weiss, das Peppa gerne in Pfützen hopst und wo Nemo sich versteckt hält. Er kennt die Geräusche, die Tiere machen, kann bei Facetime den Ortsunterschied abstrahieren, malt neue Tiere ohne Buntstifte und spielt auf seinem BabyBär Instrumente, die physisch nicht denkbar wären.
Sicher, es mag ungewohnt aussehen, ein Kleinkind durch Apps wischen zu sehen. Aber wartet erst mal ab, wie die Technologie aussieht, wenn diese Generation ihre Pubertät erreicht. Die lachen dann über euer iPhone 7s.