Was passiert mit dem Mann nach dem Feminismus? – Schlimmes! – sagt eine dunkle Ecke des Internets, die sich das «Incel-Movement» nennt. «Incel» steht für involuntary celibates also für unfreiwillige Zöllibatäre. Das sind wütende Männer, die davon überzeugt sind, dass ihnen die Welt bedingungslosen Sex schuldig ist.
Die Männer sind die wahren Opfer der Weltordnung, sagen die Incels. Aber nicht alle Männer. Nur die Beta-Männer. Nicht die sogenannten «Chads», in deren Schatten alle anderen Männer leben müssen. Laut Szenen-Memes sind Chads die stereotypen, sportlichen Jungs. Die, die den ganzen Sex abbekommen, der den anderen fehlt. Chads gelten aber laut Incels in den meisten Fällen als dumme, uneinfühlsame und aggressive Macker. Umso frustrierender, dass sie bei den Frauen trotzdem landen. Dieses Phänomen erklären sich die Incels dadurch, dass die aller meisten Frauen eben «Stacys» seien. Was in ihrem Verständnis so viel wie willige, aber wählerische Schlampen bedeuten muss.
Ironischerweise findet der Begriff Incel seinen Ursprung bei einer jener Stacys. Eine unbekannte Frau richtete – aus Mitleid getrieben und mit wohlwollender Absicht – eine Webseite ein, auf der sich Männer, die sich schwer mit der Partnersuche tun, austauschen können. Dort tauchte der Begriff Incel zum ersten Mal auf. Nun hätte ja eigentlich ein schöner Austausch über die gemeinsamen Probleme und eventuellen Lösungsansätze stattfinden können. Man hätte sich gegenseitig unterstützen und bestärken können. Man könnte sich auch durchaus vorstellen, dass der eine oder andere Incel sich in seiner Bestärkung einem Chad angenommen hat oder sich gar der Pick-Up-Artist-Szene angeschlossen hat, um eine umfängliche Einführung in die geheimnisvolle Kunst des heterosexistischen Abschleppens zu erhalten. Aber das war alles nicht der Fall.
Die unfreiwillig Sexlosen zogen sich stattdessen zurück. In obskure Diskussionsforen, in denen sie ihre kleinen Verschwörungstheorien heran züchteten. Auf dem Forum incels.me gibt es zum Beispiel gleich mehrere Diskussionsbeiträge zum Thema «How to inflict lasting emotional damage on a woman – wie kann man einer Frau dauerhaften emotionalen Schaden zufügen?». Die beliebte Internetseite reddit.com hat die Unterkategorie «Incels» letztes Jahr sogar wegen eskalierender Gewaltfantasien geschlossen. Die Diskussionsgruppe zählte damals rund 40'000 Mitglieder.
Markus Theunert vom Dachverband der Schweizer Männer- und Väterorganisationen schreibt auf Anfrage von watson folgendes:
In der Tat sehen sich die Incels als derartige Feminismusopfer, dass ihnen der Standardsexismus zu langweilig ist. Statt Frauen im klassischen patriarchalen Sinn auf sexuelle Objekte zu reduzieren, die es von Männern zu erobern gilt, sehen die Incels in ihnen die Kontrahentinnen ihrer Lust. Unter der (noch nicht geschlossenen) Reddit-Kategorie «Foreveralone» schreibt ein bereits gelöschter User folgendes:
Wieso frustrierte Männlichkeiten lieber Frauenhass als Systemkritik formulieren, erklärt Soziologe und Männlichkeitsexperte Theunert so: «Männer begreifen noch viel seltener als Frauen, dass sie nicht per se als Mann geboren wurden, sondern dass die Gesellschaft sie zu einer bestimmen Männlichkeitsnorm erzieht.» Erst wenn man dies anerkennt, versteht man, dass die Welt unfaire Verhältnisse schafft; zum Beispiel Schönheitsideale. Theunert konstatiert: «Viele Männer trauen sich (noch) nicht diese Tatsache wahrzuhaben. Schliesslich ist es einfacher den maskulinen Autopiloten einzulegen und sich zu beklagen, dass die Welt nicht richtig tickt, währenddem man doch selber alles ‹richtig› zu machen scheint. Auf jeden Fall einfacher, als sich selber die Frage zu stellen, wer und wie bin ich und was für ein Mann möchte ich sein.»
Die Frustration der Incels bleibt jüngst nicht nur eine digitale Verschwörungstheorie, die sich einer Analyse den eigentlichen Gesellschaftsverhältnissen verweigert. Die Verzweiflung zog Taten nach sich. Alek M., der Ende April in Toronto mit einem Fahrzeug in eine Menschenmenge fuhr und dabei zehn Menschen tötete und 15 weitere verletzte, schrieb kurz vor seiner Tat auf Facebook:
Im Zuge dessen distanzierten sich einige wenige Incels auf incels.me von den Geschehnisse in Toronto. Andere gratulierten dem Attentäter jedoch medial. Das sei «genau das Lebenselixier», das er brauche, schreibt ein Nutzer und fügt an: «Wir müssen die Normies in ständiger Angst halten.» Ein Nutzer namens «gstrvtrp» schreibt: «Die Nachricht verbreitet sich. Wir sind jetzt Mainstream.»
Auf Twitter sorgte indes der folgende Wortwechsel für die Einsicht, dass die unfreiwillig Sexlosen in einer gefährlichen Subrealität der Frustration leben.
Just a reminder that women are human beings with agency, and not objects to be doled out. (I have no idea why anyone would want a relationship where the other person would almost certainly hate and resent you, but okay.) pic.twitter.com/m4SgZ0kszC
— Jennifer Wright (@JenAshleyWright) 24. April 2018