Er ist ein Psychopath. Siebzehn Jahre alt und heisst melodramatischerweise James. James fühlt nichts seit sich seine Mutter vor seinen Augen umgebracht hat. Damals war James sechs. Und seither hat er die Intonation in seiner Stimme verloren. James tötet gerne Tiere. Er liebt es. Vom Schmetterling bis zur Katze. Mit Messer und Genickbruch. Einmal steckte er seine linke Hand in eine Fritöse, nur damit er etwas fühlen kann. James will jetzt etwas Grösseres töten. Jemand grösseres, um genauer zu sein.
Sie ist eine Theatralikerin. Und sie fühlt ganz viel. Viel mehr als die anderen. Zuvorderst stehen Vaterkomplexe. Und wie Teenager-Psychopathen von Gesetzes wegen James heissen müssen, so hören nervige Depro-Revoluzzerinnen auf den Namen Alyssa. Zumindest scheint das in Grossbritannien der Fall zu sein. Der fast schon etwas kitschig-klischierten Kulisse des neuen Netflix-Serienhits «The End of the F***ing World».
Machmal, wenn Alyssa den Rücken in das perfekt gestutzte Grün des perfekten Gartens ihrer perfekten Mutter drückt, fühlt sie sich glücklich. Dann muss aber nur jemand einen Pieps von sich geben und sie rastet aus. Schmeisst mit Brathähnchen und Smartphones um sich. Alyssa nervt. Und sie flucht gerne. Und viel.
Als sie sich aus einem Affekt heraus entscheidet, sich dem Schulhof-Weirdo James anzunehmen, freut man sich als Zuschauer irgendwie auf eine ganz unkorrekte Weise.
Alyssa findet es erfrischend – und auch ein bisschen geil – mit dem seelisch toten Jungen abzuhängen. Er passt zur Chaos-Ästhetik, welcher sie so fest frönt und die ihr niedliches Sommersprossen-Gesicht etwas zu kompensieren vermag. Der seelisch tote Junge hingegen liebäugelt damit, das überlebendige Bündel noch kaputter zu machen als es ohnehin schon ist. Ganz kaputt.
Beide haben sie einen abgefuckten Fetisch. James will Blut und Alyssa will – naja – andere Körperflüssigkeiten.
In jeder Sekunde von «The End of the F***ing World» ist man als Zuschauer peinlich berührt. Kitzlig fragt die eingeschüchterte Magengrube den Kopf: Bringt er sie nun wirklich um? Nein, das kann er nicht tun! Oder doch?
Übertriebene Mord-Szenarien jagen blamable Vorwitzigkeit. Wie Comic-Figuren wirken die beiden Teenies. Was sie streng gesehen auch sind. Denn bei TEFW handelt es sich um die filmische Umsetzung des gleichnamigen Graphic-Novels von Charles Forsman.
Vielleicht ist gerade das der Grund, wieso man sich ständig die Frage stellt, ob man sich gerade einen Thriller oder doch bloss eine etwas düstere Komödie reinzieht. Schon während der ersten Episode springt die Serie zwischen den beiden Genres hin und her – und verwirrt ungemein. Und eine Folge dauert nur knapp 20 Minuten.
Die ganze Verwirrung erzeugt einen unglaublichen Spannungsfächer, macht einen selbst ganz zynisch und gleichzeitig offen. Bis zum «verfi**ten Ende» eben. Episode für Episode. Man macht es einfach mit.
James macht auch alles mit. Haut noch vor dem Ende der ersten Episode mit Alyssa im Auto seines Vaters ab. Begrapscht den Penis eines Veteranen auf dem Herrenklo und tut alles dafür, dass Alyssas klare Vorstellung eines jugendlichen Eskapismus' exakt bewerkstelligt wird.
An jeder erdenklichen Stelle könnte man die Serie anhalten und man sähe das nächste Albumcover einer unbedeutenden Melancholic-Indie-Band. Retro-Chic vom feinsten. Wie man's von Netflix nicht anders gewohnt ist.
Doch TEFW hebt sich von den Ironie-befreiten Drama-Kids anderer nostalgischen Coming-of-Age-Storys ab. Die Geschichten von James und Alyssa sind grell von aussen und düster von innen. Fahrlässig verknittert an den Seiten und neurotisch gebügelt in der Mitte. So wie all die alten britischen Indie-Songs, die aus dem Hintergrund all die Fehlentscheidungen der beiden adoleszenten Ausreisser besingen.
Und obwohl alles so falsch ist in dieser Serie, die Handlungen karikaturhafte Wendungen nehmen, die Reaktionen sich cholerisch bis verkorkst manifestieren, will man nie eingreifen. Man hat keine Lust, die zwei verlorenen Menschen kräftig durchzuschütteln, weil sie etwa so nerven oder weil sie so verloren sind. Versteht mich nicht falsch: Das alles trifft ohne Zweifel und in jammervollstem Masse auf die zwei (grandios gespielten!) Hauptrollen zu. Doch man lässt sie sein, die beiden. Ergötzt sich an ihrer Geschichte und deren Ausweglosigkeit. Nicht aus Schadenfreude, Mitleid oder gar aus Ärger. Nein, aus Sympathie.
Ohne es klar zu merken, könnte man James und Alyssa allmählich zu mögen beginnen. Für ihre umbarmherzige Kompromisslosigkeit nämlich, mit der sie ihre tragische Existenz angehen, aus ihr ausbrechen und diese auf ganz kümmerliche, aber ehrliche und deshalb irgendwie süsse Art und Weise reflektieren.
Irgendwann gen Schluss checkt man, dass man weder einen Thriller noch eine düstere Komödie schaut. Viel mehr hat man das Gefühl, man schaue einen tragikomödischen Mockumentary-Streifen, dessen Ende man sich zwar sehnlichst herbeiwünscht, dann aber doch ganz schön reuig ist, wenn's wirklich vorbei ist.