Ausbildung und Karriere haben heute einen höheren Stellenwert für Leute in den Mittzwanzigern, als das Gründen einer Kleinfamilie. Daten des Bundesamts für Statistik zeigen, dass die Geburtenrate seit den 60er-Jahren auf die Hälfte geschrumpft ist. Von durchschnittlich fast drei Kindern auf anderthalb pro Frau.
Trotz dieses Trends sind Leute, die sich bewusst gegen Kinder entscheiden sozial geächtet, wie eine aktuelle Studie herausgefunden hat.
Leslie Ashburn-Nardo lehrt Psychologie an der Universität von Indianapolis. Sie hat sich dem Phänomen der «verachteten Kinderlosen» angenommen und will heraus finden, worauf die besagte Missgunst aufbaut.
Für ihre Studie hat die Psychologie-Professorin 197 Testpersonen angeworben. Zunächst wurde den Teilnehmern gesagt, dass es bei dem Test um die menschliche Intuition gehe und darum, wie gut sie die Zukunft einschätzen können.
Anschliessend lasen die Probanden vier Geschichten von verheirateten Paaren. Die fiktiven Storys unterschieden sich lediglich darin, ob sich die Paare Kinder wünschen oder ob sie sich bewusst dagegen entscheiden.
Aufgrund dieser Angaben mussten die Studienteilnehmer die psychische Zufriedenheit der skizzierten Paare einschätzen. Das Ergebnis: Auf psychischer Ebene wurden die willentlich kinderlosen Männer und Frauen als deutlich weniger erfüllt eingeschätzt. Zudem stellte Ashburn-Nardo fest, «dass den kinderlosen Paaren krasse moralische Vorwürfe gemacht werden.» Dabei kommen Gefühle wie Wut und Ekel ins Spiel.
«Kinderlose Frauen sind an ihrem Elend selber Schuld, wenn sie sich gegen das Kinderkriegen entscheiden», lautet eine Argumentation der moralischen Apostel. Die Autorin der Studie sieht darin einen Beweis, dass die Erwartungen und Vorstellungen, die wir an Menschen haben, noch immer stark an das Geschlecht gekoppelt sind: «Mich hat überrascht, dass sowohl Männer als auch Frauen stigmatisiert werden, wenn sie sich entscheiden, keine Kinder zu bekommen.» Die Gesellschaft beharrt anscheinend noch immer darauf, dass aus Jungs einmal ein Vater und aus Mädchen mal eine Mutter werden muss.
Für Ashburn-Nardo sind die Ergebnisse ihrer Studie denn auch eine Erklärung für die polarisierende Abtreibungs-Debatte: «Da Elternsein als moralisches Gebot betrachtet wird – also etwas, das von uns erwartet wird – darf die Freiheit, das ‹Elternwerden› durch eine Abtreibung zu verhindern, nicht bestehen. Das finde ich schrecklich und vor allem extrem antiquiert.»
Schon Vorgängerstudien aus den 70er-, 80er- und 90er-Jahren kamen zu ähnlichen Ergebnissen. Die amerikanische Psychologin ist deshalb pessimistisch gestimmt. Sie bedauert, dass es trotz des massiven Wandels, den die Gesellschaft in den letzten 40 Jahren begangen hat, noch immer «Imperative gibt, die den Menschen vorgaukeln, sie seien nicht frei.» Wenigstens wissen wir nun, dass es eine Frage der Moral ist. Und die Moral ist ja bekanntlich wandelbar.