Schweiz
Gender

Intersexualität: Braucht es ein drittes Geschlecht?

Intersexualität: Braucht es ein drittes Geschlecht?

Deutschland führt bald ein drittes Geschlecht ein. Schweizer Intersexuelle beurteilen das kritisch.
10.11.2017, 06:1410.11.2017, 06:14
Rebecca Wyss / Nordwestschweiz

Für intersexuelle Menschen, die keinem Geschlecht eindeutig zugeordnet werden können, sind die kleinen Dinge im Alltag eine Herausforderung. Das fängt im Kindergarten mit dem Gang zur Toilette an. Als kleine Knöpfe müssen sie sich entscheiden: für die Tür mit Kreis und Kreuz oder jene mit Kreis und Pfeil.

Jetzt auf

Schlimmer wird’s als Erwachsene. Egal, ob bei Hotelbuchungen, beim Online-Shopping oder beim Behördengang – sie müssen zwischen «Herr» und «Frau» wählen. Jetzt soll die Grundlegendste aller Entscheidungen in Deutschland erleichtert werden: Das Bundesverfassungsgericht will für das Geburtenregister ein drittes Geschlecht einführen.

Intersexualität
Deutsche Intersexuelle sind im Geburtsregister nicht mehr geschlechtslosBild: shutterstock.com

Viele fühlen sich nicht «inter»

Schon heute gibt es in Deutschland drei Möglichkeiten für Eltern. Sie können ihr Kind entweder als «männlich» oder «weiblich» eintragen lassen. Oder wenn eine eindeutige Zuordnung nicht möglich ist, einfach kein Kreuz beim Geschlecht machen.

So gibt es einige Deutsche, die gemäss Geburtenregister geschlechtslos sind. Sie fallen in die Leerstelle, die der Gesetzgeber 2013 geschaffen hat. Die deutschen Bundesverfassungsrichter wollen jetzt all diesen Menschen die Möglichkeit geben, aus der Geschlechtslosigkeit zu entkommen. Sie (oder viel eher ihre Eltern) sollen ihre geschlechtliche Identität mit einer Bezeichnung wie «inter» eintragen lassen können.

«Inter» kein Thema

In der Schweiz diskutiert man die Option «inter» nicht. Aber auch den Status der Geschlechtslosigkeit gibt es nicht. Gerade deshalb sieht Daniela Truffer von der Organisation Zwischengeschlecht.org in der Schweiz weniger Handlungsbedarf. Die Präsidentin sagt: «Für die Kinder kann ein solcher Eintrag als drittes Geschlecht Nachteile haben.»

Truffer setzt sich seit Jahren im In- und Ausland für intersexuelle Menschen ein, Zwischengeschlecht.org ist die einzige Organisation , die sich hierzulande ausschliesslich für Intersexuelle einsetzt. «Der Entscheid der Eltern kommt einem unfreiwilligen Outing gleich, mit dem die Betroffenen später vielleicht zu kämpfen haben», sagt sie. Zumal die Betroffenen selbst nicht darüber entscheiden können.

Truffer betont zudem, dass die meisten, die keine eindeutigen Geschlechtsmerkmale aufweisen, sich einem der beiden Geschlechter zugehörig fühlten. «Für sie ist die Einführung des dritten Geschlechts kein Thema.»

Daniela Truffer selbst kam 1965 mit uneindeutigem Geschlecht zur Welt. In ihrem Bauch fanden die Ärzte Hoden. Sie hatte auch einen kleinen Penis – oder laut den Ärzten eine vergrösserte Klitoris. Zudem stellten sie fest, dass sie über einen männlichen Chromosomensatz verfügt. Die Ärzte machten aus dem Kind ein Mädchen – wie es damals die Praxis war. «Diskussionen über die Einführung eines dritten Geschlechts dürfen nicht von den wahren Problemen, den Verstümmelungen, ablenken», sagt sie.

Einfache Geschlechtsänderung

Dennoch würde Truffer eine Änderung der Schweizer Praxis begrüssen und verweist auf den Vorschlag der Nationalen Ethikkommission im Bereich der Humanmedizin (NEK). 2012 hatte diese im Auftrag des Bundesrates einen Bericht zum Umgang mit Varianten der Geschlechtsentwicklung vorgelegt. Darin empfiehlt sie, dass die beiden bisherigen Geschlechtskategorien im Personenstandsregister beibehalten werden. Intersexuelle sollen dieses aber später unbürokratisch ändern können. Heute ist eine Änderung nur mit grossem Aufwand möglich: Betroffene müssen bei einem Zivilgericht Klage einreichen. 

Geschlecht: «Inter» ist nicht «trans»
Ein bis zwei Menschen von 1000 sind Schätzungen zufolge intersexuell – sie können nicht eindeutig einem Geschlecht zugeordnet werden. Das unterscheidet sie von Transsexuellen. Diese fühlen sich dem anderen als ihrem biologischen Geschlecht zugehörig.
Bei Intersexuellen können die Chromosomen, Hormone, Keimdrüsen und Genitalien sowohl männliche als auch weibliche Elemente aufweisen. Es gibt verschiedene Varianten davon:
1. Menschen, die genetisch männlich und physiologisch weiblich sind. Die also einen XY-Chromosomensatz haben und Hoden im Unterleib ausbilden, sich äusserlich aber komplett weiblich entwickeln.
2. Menschen, bei denen sich Merkmale beider Geschlechter ausprägen. Wenn in einem genetisch männlichen Fetus ein zusätzliches, zweites X-Chromosom vorkommt (XXY).
3. Menschen mit genetisch weiblichen und physiologisch männlichen Merkmalen. Sie haben weibliche Geschlechtsorgane mit männlichen Merkmalen wie eine vergrösserte Klitoris. (rwy)

Es gibt Dinge, die man nur in der Familie tut – und das ist auch gut so

Video: watson
Frauen-Themen, Feminismus, Sexismus, Gesellschaft
Showbusiness heisst nicht Sexgewerbe! Der Sturz des Fotografen Terry Richardson 
32
Showbusiness heisst nicht Sexgewerbe! Der Sturz des Fotografen Terry Richardson 
von Simone Meier
Im Fall Weinstein gibt's vor allem eins zu sagen: «Fuck you!» – an mehrere Adressen
86
Im Fall Weinstein gibt's vor allem eins zu sagen: «Fuck you!» – an mehrere Adressen
von Simone Meier
FOMO, Squish & Vanilla: Das grosse Sex- und Gefühls-ABC der Generation Z
33
FOMO, Squish & Vanilla: Das grosse Sex- und Gefühls-ABC der Generation Z
von Jovin Barrer
«Es gibt kein Geschlecht. Es gibt keine Regeln. Es gibt nur mich.»
29
«Es gibt kein Geschlecht. Es gibt keine Regeln. Es gibt nur mich.»
von Richard Oppermann
WTF? 23 vergenderte Produkte, die keiner braucht 
104
WTF? 23 vergenderte Produkte, die keiner braucht 
«American Apparel»-Gründer so: «Mit Mitarbeiterinnen zu schlafen, ist unvermeidlich»
37
«American Apparel»-Gründer so: «Mit Mitarbeiterinnen zu schlafen, ist unvermeidlich»
von Jovin Barrer
Wütende Österreicher fordern Tod und Zwangssterilisation für die «Katzentreterin»
105
Wütende Österreicher fordern Tod und Zwangssterilisation für die «Katzentreterin»
von Simone Meier
Fast alle ungenügend, aber auf gutem Weg: Disney-Prinzessinnen im Gender-Check
43
Fast alle ungenügend, aber auf gutem Weg: Disney-Prinzessinnen im Gender-Check
von Can Kgil
Hinter dem Film übers Schweizer Frauenstimmrecht steckt ein Skandal-Baby
16
Hinter dem Film übers Schweizer Frauenstimmrecht steckt ein Skandal-Baby
von Simone Meier
12 sexistische «Perlen» aus dem SRF-Archiv – muss man sehen, um es zu glauben
36
12 sexistische «Perlen» aus dem SRF-Archiv – muss man sehen, um es zu glauben
von Kian Ramezani
Lügen-Quellen! Frauen erobern ihren wahren Platz in der Weltgeschichte zurück
28
Lügen-Quellen! Frauen erobern ihren wahren Platz in der Weltgeschichte zurück
von Anna Rothenfluh
Die keltische Kriegerkönigin Boudica, die tausende Römer niedermetzelte
90
Die keltische Kriegerkönigin Boudica, die tausende Römer niedermetzelte
von Anna Rothenfluh
Absätze, Lippenstift und neutrale Unterwäsche – darf man Frauen das vorschreiben?
122
Absätze, Lippenstift und neutrale Unterwäsche – darf man Frauen das vorschreiben?
von Nadja Brenneisen
Frauen, die Geschichte schrieben, Teil I: Die ägyptische Traumfrau Kleopatra
44
Frauen, die Geschichte schrieben, Teil I: Die ägyptische Traumfrau Kleopatra
von Anna Rothenfluh
«Fleisch» – Lehrer mit teigigen Figuren und Kopflesben sollten dieses Buch nicht lesen
7
«Fleisch» – Lehrer mit teigigen Figuren und Kopflesben sollten dieses Buch nicht lesen
von Anna Rothenfluh
Kaiserin Agrippina: Das herrschsüchtige Teufelsweib, das ganz Rom verführte und die Männer zu Sklaven machte
28
Kaiserin Agrippina: Das herrschsüchtige Teufelsweib, das ganz Rom verführte und die Männer zu Sklaven machte
von Anna Rothenfluh
#SchweizerAufschrei: 21 Tipps gegen den ganz alltäglichen Sexismus
176
#SchweizerAufschrei: 21 Tipps gegen den ganz alltäglichen Sexismus
von Simone Meier
Sie haben genug: 22 Schweizerinnen erzählen, wie sie sexuelle Gewalt im Alltag erlebten
117
Sie haben genug: 22 Schweizerinnen erzählen, wie sie sexuelle Gewalt im Alltag erlebten
von Anne-Sophie Keller (text) und Sophie Stieger (bilder)
Diese Frau steckt hinter der Aktion #SchweizerAufschrei
38
Diese Frau steckt hinter der Aktion #SchweizerAufschrei
Du bist jung, weiblich und in deine beste Freundin verliebt? Dies erwartet dich <3
33
Du bist jung, weiblich und in deine beste Freundin verliebt? Dies erwartet dich <3
von Simone Meier
Diese 15 genialen Bilder beschreiben perfekt, wie es ist, die Mens zu haben
14
Diese 15 genialen Bilder beschreiben perfekt, wie es ist, die Mens zu haben
von Madeleine Sigrist
In 6 Schritten zum Stalker: Der Aktionsplan für die Frauen-mit-Kopfhörer-Anmache
20
In 6 Schritten zum Stalker: Der Aktionsplan für die Frauen-mit-Kopfhörer-Anmache
von Anna Rothenfluh
Du wirst bald 30? Freu dich, jetzt wird dein Leben echt fantastisch!
43
Du wirst bald 30? Freu dich, jetzt wird dein Leben echt fantastisch!
von Simone Meier
Der BH als Spiegel unserer Gesellschaft: Ist es wieder mal Zeit für eine Befreiung der Brüste?
43
Der BH als Spiegel unserer Gesellschaft: Ist es wieder mal Zeit für eine Befreiung der Brüste?
von Anna Rothenfluh
«So nicht, liebe Männer!» Tinder-Knigge zweier watson-Userinnen macht aus Eseln Hengste
«So nicht, liebe Männer!» Tinder-Knigge zweier watson-Userinnen macht aus Eseln Hengste
von Anna & jasmine
Stefanie gegen die rechte Welt: Was der Spruch «Feministinnen sind hässlich» wirklich bedeutet 
66
Stefanie gegen die rechte Welt: Was der Spruch «Feministinnen sind hässlich» wirklich bedeutet 
von Simone Meier
Auf der Tür zur Hölle der Frau stehen 3 Buchstaben: PMS. Prämenstrueller Supergau
29
Auf der Tür zur Hölle der Frau stehen 3 Buchstaben: PMS. Prämenstrueller Supergau
von Simone Meier
«Voll zwischen die Beine» – «Habe ich schon x-mal erlebt» – «Man hat sich daran gewöhnt»: Wie Frauen im Ausgang sexuell belästigt werden
167
«Voll zwischen die Beine» – «Habe ich schon x-mal erlebt» – «Man hat sich daran gewöhnt»: Wie Frauen im Ausgang sexuell belästigt werden
von Sabina Sturzenegger
«Und was ist mit den Männern?!» Das Schreckgespenst Feminismus geht wieder um 
179
«Und was ist mit den Männern?!» Das Schreckgespenst Feminismus geht wieder um 
von Anna Rothenfluh
Das Fazit von Köln: Frauen müssen lernen, nicht vergewaltigt zu werden
127
Das Fazit von Köln: Frauen müssen lernen, nicht vergewaltigt zu werden
von Simone Meier
Es ist ganz einfach: Feminismus ist das neue Cool
13
Es ist ganz einfach: Feminismus ist das neue Cool
von Simone Meier
DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Das könnte dich auch noch interessieren:
Du hast uns was zu sagen?
Hast du einen relevanten Input oder hast du einen Fehler entdeckt? Du kannst uns dein Anliegen gerne via Formular übermitteln.
33 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
Unfriedlicher_Tibeter
10.11.2017 06:53registriert September 2017
Statistisch gesehen ist die Intersexualität eine Rarität. Dafür die öffentliche Infrastruktur dermassen zu verändern, halte ich für nicht verhältnismässig.

Betroffene sollten in ihrem Selbstwertempfinden gestärkt werden. Daher ist eine Aufklärung des näheren Umfeldes wahrscheinlich eine optimalere Lösung, da hier intersexuelle Menschen besser in ein Sozial-Konstrukt inkludiert werden als bei einer weiteren Abgrenzung zu den "biologischen Normalos".

Gesellschaftliche Toleranz, oder besser noch Akzeptanz, erreicht man nicht durch weitere Abschottung. Eher das Gegenteil.
10
Melden
Zum Kommentar
avatar
Wilhelm Dingo
10.11.2017 07:18registriert Dezember 2014
Von mir aus ein drittes Geschlecht. Was mich nervt ist die ewige Diskussion über dieses Randthema was nur extrem wenige Menschen betrifft.
20
Melden
Zum Kommentar
avatar
Deutero Nussuf
10.11.2017 07:18registriert Januar 2016
Es geht auch unaufgeregt.
Danke Daniela Truffer.

Bitte nicht dieses Affentheater wie in DE veranstalten.
10
Melden
Zum Kommentar
33
Über ein Drittel der Schweizer Firmen berichtet von Missständen
Mehr als ein Drittel der Schweizer Firmen ist 2024 von illegalem und unethischem Verhalten im eigenen Haus betroffen gewesen. Damit sind die Schweizer Unternehmen unterdurchschnittlich betroffen, wie aus dem Whistleblowing Report 2025 hervorgeht.
Zur Story