Schweiz
Wirtschaft

«Arena»: Sozialhilfe-Empfängerin und Betreuer überzeugen

Analyse

Eine Sozialhilfe-Empfängerin und ein Betreuer übertrumpfen in der «Arena» die Politiker

Eine neue Studie zeigt, dass der Grundbedarf von 986 Franken der Schweizer Sozialhilfe zu knapp berechnet ist. In der «Arena» streiten sich nun die Politiker darüber, wie die Zukunft des Schweizer Sozialstaates aussehen soll. Doch die Show wird ihnen von zwei Personen aus der Praxis gestohlen. 
12.01.2019, 01:0413.01.2019, 01:14
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Sind 986 Franken genug? Diese Frage stellt Moderator Jonas Projer seinen Studiogästen am Freitag. SVP-Nationalrat Thomas Müller steigt gleich steil ein und bezeichnet die «sogenannte Armutsdiskussion» als «politischen Kampfbegriff» der Linken.

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Dem widersetzt sich auf der anderen Seite SP-Nationalrätin Mattea Meyer. Sie ist erzürnt darüber, dass Müller das Armutsproblem in der Schweiz herunterspielt. Dabei kann sie in den Startminuten mit einem Beispiel punkten. Armut wird nämlich dann zum Problem, wenn wegen eines Missgeschicks mehrere hundert Franken für den Schlüsseldienst bei den Lebensmitteln eingespart werden müssen.

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Richtig Fahrt nimmt die Sendung aber erst auf, als Projer einen Publikumsgast vorstellt. Es handelt sich dabei um die zweifache alleinerziehende Mutter Eveline Brown. Weil ihr Job als Damenschneidern zu schlecht bezahlt wird, reicht der Lohn nicht aus und sie muss Sozialhilfe beziehen.

Auch der Vater der Kinder kann ihr nicht unter die Arme greifen. «Man muss sich halt grundsätzlich immer Gedanken darüber machen, was das Notwendigste ist», sagt Brown. Das fährt ein, auch den hartgesottenen Bürgerlichen. Diese beteuern sogleich, dass sie natürlich nicht bei Frau Brown, sondern eben bei anderen, «unehrlichen» Sozialhilfe-Bezügern den Rotstift ansetzen wollen.

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Es sind diese Erzählungen aus der Praxis, die der «Arena» am Freitag Schwung verleihen. Die Diskussion zwischen den Politikern ist hingegen festgefahren. Auch die Wortmeldungen des emeritierten Soziologieprofessors Ueli Mäder können den Karren nicht mehr aus dem Sumpf ziehen.

Denn diese sind meist so komplex, dass der Zuschauer nur schwer folgen kann: «Das Prinzip, dass man Ungleiches ungleich behandeln muss, stimmt ja, weil wenn man Ungleiches gleich behandelt, bleibt es ja ungleich.»

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Während die Studiogäste weiterhin über Abstufung, Wirtschaftlichkeit und das Giesskannenprinzip diskutieren, holt Brown die Runde wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. Sie versuche zur Zeit, eine Weiterbildung zu besuchen. Sie ist sich sicher, dass sie durch Stipendien und Hilfe anderer Institutionen das Geld dafür zusammenkriegt.

Das Problem: Möglicherweise kann sie dieses Geld gar nicht annehmen, ohne Kürzungen in der Sozialhilfe hinzunehmen. Damit wäre Frau Brown wieder auf Feld eins. Es sind solche Erzählungen, die beim Zuschauer hängen bleiben.

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Der zweite Held des Abends sitzt gleich links von Frau Brown. Es ist der Leiter der Sozialhilfe Aarau, Andreas Frey. Denn dieser wehrt sich mit nüchterner Sachlichkeit gegen den alarmistischen Ton seiner zweiten Nachbarin, der SVP-Grossrätin Martina Bircher.

Sie erzählt von Handgreiflichkeiten und renitenten Sozialhilfe-Bezügern, die auf Kosten des Staates Juristen beauftragen, um ungerechtfertigt Sozialhilfe zu beziehen. Das System der Leistungskürzungen funktioniere wegen diesen Verzögerungstaktiken laut Bircher Vorne und Hinten nicht. 

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Als Andreas Projer Frey fragt, ob Frey in seiner täglichen Arbeit die gleichen Beobachtungen mache, verneint dieser. Er habe in den fünf Jahren, in denen er bereits Sozialhilfe-Empfänger betreut, noch nie eine Handgreiflichkeit erlebt.

Weiter führt er aus, dass man es nur sehr selten mit renitenten Bezügern zu tun bekomme und hier würde das Mittel der Kürzung wunderbar funktionieren. Ausserdem sei es nun mal Teil der Schweizer Rechtsstaatlichkeit, dass sich die Bürger gegen die Entscheide der Behörden wehren können. Auf so viel Coolness hat Bircher keine schlagfertige Antwort mehr.

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Das letzte Wort erteilt Projer schliesslich nochmals Frau Brown. Was sie denn aus dieser Sendung mitnehme? «Hoffnung», sagt diese. Aus der Runde habe sie viel Zuspruch erhalten, von Links und von Rechts. Sie hofft, dass ihre Sozialarbeiterin die Sendung geschaut hat und das Vorhaben mit der Weiterbildung zur Visagistin doch noch klappt.

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Durch die Sendung hindurch haben es Brown und Frey geschafft, die festgefahrene Diskussion zwischen den Studiogästen aufzulockern und zu bereichern. Auch wenn die Politiker oft nicht direkt auf ihre Erzählungen eingegangen sind, hinterlassen die Beiden den besten Eindruck in der Sozialhilfe-«Arena».

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Video: srf/SDA SRF

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233 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Linus Luchs
12.01.2019 06:58registriert Juli 2014
Auf der einen Seite Menschen, die aus eigener Erfahrung berichten, wie die Realität aussieh, auf der anderen Seite Politikerinnen und Politiker, die sich von dieser Realität nicht beirren lassen und an ihren asozialen Behauptungen festhalten. Und dann auch noch sagen, sie würden das Volk vertreten. Das V steht wohl eher für Verlogenheit.
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Butschina
12.01.2019 02:51registriert August 2015
Hmm bei ihr wollen sie den Grundbedarf nicht reduzieren, bei anderen schon. Macht nicht Sinn. Der Grundbedarf wird anhand der Anzahl Familienmitglieder berechnet die unterstützt werden müssen. Wenn sie den Grundbedarf kürzen trifft es eben auch alleinerziehende Mütter oder Väter und deren Kinder. Ich sehe das grösste Problem darin, aus der Sozialhilfe wegzukommen. Es käme günstiger Frau Brown die Ausbildung zu ermöglichen wenn sie dadurch die Möglichkeit erhält nicht mehr auf Sozialhilfe angewiesen zu sein.
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zyrianer
12.01.2019 06:20registriert Dezember 2016
Diese Kürzungen werden nur dazu führen noch weniger Leute aus eigener Kraft die Sozialhilfe verlassen können. Es ist paradox jedoch bin ich überzeugt das mit mehr investiertem Geld (für die Sozialämter) mehr Leute aus der Sozialhilfe holen kann. Was es braucht ist bessere Betreuung mit mehr Zeit der einzelnen Bezügern durch ihre Berater.
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