Sieben Jahre war Prairie verschwunden. Ein blindes Mädchen – entführt. Ausgerechnet auf YouTube erfährt Nancy Johnson von der Rückkehr ihrer Tochter, die plötzlich wieder sehen kann. Im Video: Eine Frau Ende 20, die von einer Brücke springt. Der Zuschauer, er kann gar nicht anders, als innerlich kurz aufzuschreien. Wo war Prairie all die Zeit, und warum möchte sie niemandem, schon gar nicht ihren Eltern oder dem FBI, davon erzählen?
Auf ihrem Rücken: Seltsame Narben, die an Schriftzeichen erinnern. Operieren könne man die, sagen die Ärzte, wie wäre es mit einer Psychotherapie? Doch Prairie denkt nicht daran, ihre Sorgen kreisen um andere. Menschen, die sie an dem Ort zurücklassen musste, von dem sie floh.
Zwei Jahre haben die Drehbuchautoren Brit Marling und Zal Batmanglij («Sound of my Voice») an der Serie gearbeitet, bevor sie anfingen nach passenden Produzenten zu suchen. Von Beginn an haben sie sich Prairies Geschichte immer wieder laut vorgesagt, um Unstimmigkeiten im Plot zu vermeiden. Heraus kam eine aufwühlende Serie, die zwischen Drama, Mystery und Science Fiction schwankt und wenig mit dem zu tun hat, was man sonst so streamen kann, um gemütlich vor dem Fernseher einzuschlafen.
Marling selbst spielt die Hauptrolle, die einzelnen Episoden sind unterschiedlich lang und decken die Palette der menschlich erfahrbaren Gefühle auf der Negativskala ab: Ängste, Träume, der Tod und Depressionen sind fester Bestandteil der Serie.
Es gibt Hinweise, dass Prairie psychisch krank ist. Sie kann nicht arbeiten, meidet Berührungen und findet ausgerechnet bei denen Anschluss, die laut Behörden und Eltern zu meiden wären: Verhaltensauffällige Jugendliche. Ihnen möchte sie die Wahrheit erzählen, über das Blindsein und die Narben auf den Rücken. Über den Ort, an den man gelangt, sobald man stirbt.
Es sind genau diese Antworten auf existenzielle Fragen, die süchtig machen, weil sie in «The OA» sprachlich als auch visuell behandelt, statt als esoterische Hirnspinnerei abgetan werden.
Drehbuchautorin und Schauspielerin Brit Marling ist an Charakteren interessiert, die sich selbst verloren haben. Sie studierte Wirtschaftswissenschaften und arbeitete für kurze Zeit sogar als Investment-Bankerin bei Goldman Sachs. Später sagte sie, dass sie während dieser Monate eine grosse Bedeutungslosigkeit in ihrem Leben verspürte. Ein Jobangebot von Goldman schlug sie ab – und zog stattdessen nach Kuba.
Nach ihrem ersten Dokumentarfilm «Boxers and Ballerinas» wurden ihr Rollen in Horrorfilmen angeboten, doch auch die lehnte die heute 34-Jährige ab. Sie hatte kein Interesse, die feste Freundin des Hauptdarstellers zu mimen, die im ersten Viertel brutal ermordet wird. Mit der Rolle der Prairie hat sie sich ihren Wunsch nach klischeebefreiter Unabhängigkeit auf den Leib geschrieben. Überzeugen kann Marling mit einer durchdringenden Mimik, die ihren Seriencharakter glaubhaft erscheinen lässt.
Actionszenen sucht man vergebens, auch wird der Thrill nicht mittels Monster übermittelt – sondern durch authentische Konflikte, intensive Dialoge und die Konfrontation mit einer potenziellen Unendlichkeit. Eine Unendlichkeit, die Prairie bereits in ihrem Geiste erfahren konnte und sie nicht unverändert an den Ort zurückkommen hat lassen, den man Heimat nennt.
Wer sich auf die Serie einlässt, wird nicht enttäuscht werden. Netflix zeigt erneut, dass sich aussergewöhnliche Narrative gemeinsam mit inhaltlicher Brillanz und dem dafür notwendigen unternehmerischem Mut durchsetzen können.