Freischaffende Kreative zu lieben kann sich manchmal wie eine viel zu enge Röhrenjeans aus dem Jahre 2008 anfühlen: viel Reibung und zu wenig Platz. Für dich und deine Gefühle, zum Beispiel, oder den gemütlichen Abend vor dem Fernseher.
Was natürlich nicht heisst, dass wir keine Lust auf Pizza und Netflix haben, aber wenn uns gerade etwas einfällt, das geschrieben, komponiert, fotografiert oder gefilmt werden muss, dann gibt es dafür leider kein beziehungsförderndes Timing.
Das Schlimme an der Kreativität ist, dass sie genauso Lebenselixier wie unseren Tod bedeutet – zumindest nervlich.
Gleichzeitig zeichnet sie uns aus, macht uns zu dem Charakter, der wir sind, und zaubert dir regelmässig ein Lächeln ins Gesicht, wenn wir deine Wenigkeit in unsere Werke einfliessen lassen.
Auch wenn es falsch und empirisch unmöglich ist, alle freischaffenden Kreativen über einen Kamm zu scheren – da sind zum Beispiel die professionellen Kreativen, die sich aufgrund einer viel zu teuren Altbauwohnung zumindest teilweise dem Kommerz verschrieben haben, die, die sich «niemals verkaufen» würden und seit Jahren in ihrem WG-Zimmer in Neukölln Whisky trinken und masturbieren, während andere schon zum dritten Termin vor zwölf hetzen, um über neue PR-Massnahmen für das nächste Album zu sprechen –, gibt es zumindest ein paar Gemeinsamkeiten, deren ausführliche Analyse sich in den letzten Jahren immer mehr zu einem geheimen Schlüssel für das Innenleben dieser speziellen Sorte Mensch herauskristallisiert hat.
Persönliche Erfahrung und subjektives Empfinden ist wie immer in der Auflistung garantiert, anders als «diese eine besondere Begegnung» mit dieser Sorte Mensch.
Nichts ist anstrengender, als sich vor einer wichtigen Deadline mit uns zum Abendessen zu verabreden. Glücklich ist, wer Gesichtsausdrücke deuten kann. Es kann durchaus nervig sein, wenn wir von nichts anderem als unserem «schlecht pointierten» Text, der «unfertigen» Illustration oder dem «gescheiterten» Filmexposé sprechen und dabei temporär euer Wohlbefinden vergessen. SORRY!
Wir versuchen es wirklich, geistig und nicht nur körperlich anwesend zu sein, driften aber immer wieder in eigene Gedanken ab und können es nicht erwarten, das Angefangene zu Ende zu bringen.
Wenn du auf jemanden der besonders verkopften Sorte triffst, kann es also durchaus vorkommen, dass wir dir aus Rücksicht absagen, bis wir dieses eine grosse Ding fertig haben, und uns in die Berghütte zu unseren Grosseltern zurückziehen. Ohne Smartphone.
Wer kein Arschloch ist, kommuniziert das vorher. Danke.
Vorsichtig gesagt: Jede Woche hat das Potenzial, anders zu werden, und Montag bedeutet nicht unbedingt, dass wir aufstehen. Es kann sein, dass wir am Mittwochnachmittag einen superinteressanten Auftrag für Freitag früh reinbekommen, es kann sein, dass uns die langersehnte Mail eines grossen Verlags Dienstagmittag erreicht und wir daraufhin am Wochenende nach Hamburg fliegen.
Es kann aber auch sein, dass wir einen Job verlieren und einfach nur nach Hause wollen.
Alles ist möglich – also abgesehen von konkreten Wettervorhersagen, Halbjahresplänen und interessanten Festanstellungen in der Branche unseres Vertrauens.
Aber keine Sorge: Wir haben uns langsam an das aufregende Leben gewöhnt – also stell unseren Lebensentwurf mit all seinen Negativa bitte nicht ständig in Frage. Was uns zum nächsten Punkt bringt.
Ja, auch wenn es für sehr viele Menschen unvorstellbar scheint, sich absichtlich einer ökonomischen Unsicherheit auszusetzen – für die meisten Kreativen war dieser nicht zu unterschätzende Schritt eine bewusste Entscheidung, nachdem sie unterschiedlich traumatische Erfahrungen machen mussten.
Ein Befreiungsschlag, sobald es wie von selbst lief. Wir möchten nichts lieber, als frei leben, frei von dort arbeiten, wo wir gerade sind, und uns unsere Arbeitszeiten nicht von oben vorschreiben lassen. Sehr rebellisch, wissen wir.
Also seid lieb zu uns, respektiert unsere Entscheidung und drängt uns nicht dazu mal in einer Flautenphase beim nächsten Corporate-Bullshit zuzusagen. Das machen wir schon noch selbst, wenn es sein muss.
Es gibt natürlich Menschen (mich, hust), die trotz unregelmässigen Arbeitszeiten zu einer relativ gleichen Uhrzeit ins Bett gehen. Es gibt aber auch Menschen, die gerne um vier Uhr nachts schlafen gehen, weil sie am besten ab 22 Uhr arbeiten können. Während du Kaffee aufsetzt, um zu deinem Nine-to-five-Job zu fahren, liegen wir genüsslich bis zwölf im Bett, um danach ins Strandbad zu fahren.
Muss man sich leisten können, kommt aber durchaus vor. Dafür gibt es dann Abende und ganze Wochenenden oder Wochen, an denen wir nichts anderes tun als arbeiten und unsere Gehirnzellen beim Denken verbrennen – und dabei sogar zu essen vergessen, weil wir abwechselnd begeistert, konzentriert oder frustriert sind. In dieser Reihenfolge.
In der Regel wird irgendwann der Zeitpunkt kommen, an dem du unseren kreativen Output finden und rezipieren wirst. Du wirst ihn mögen, vielleicht, aber selbst wenn nicht: Pass besser auf, wie du deine Kritik verpackst. Keine Musikerin möchte hören, dass «man früher auch mal ein bisschen Geige gespielt» oder «geschrieben» hat.
Und nein, du wirst nach dieser Zeit vermutlich kein Buch veröffentlicht und keinen Film erfolgreich gecrowdfundet haben. Versprochen.
Ja, nachdem man seine geistigen Impressionen in die Welt hinausgetragen hat, lassen die Reaktionen nicht lange auf sich warten. Die Bandbreite des Feedbacks ist dabei stark vom Beruf abhängig. Während Indie-Filmakteure eher selten mit Hatespeech auf Twitter konfrontiert werden, kann das bei einer feministisch agierenden Journalistin durchaus zum Alltag gehören und dabei deinen nicht unwesentlich mitbeeinflussen, wenn mal wieder eine Drohung eintrudelt.
Direkte Nachrichten auf sozialen Netzwerken sind Usus, genauso wie E-Mails von Männern über 60, die dir über ihr Beziehungsleben der letzten 30 Jahre erzählen.
Gehört alles dazu, macht je nach Reaktion wenig bis sehr viel Spass und hat keinerlei Einfluss auf unsere Kommunikation mit dir. Niemand ersetzt deine Nachrichten. Ernsthaft! Nicht mal 20'492 Likes auf ein neues Profilfoto.
Irgendwann im letzten Jahrzehnt haben wir festgestellt, dass das, was wir tun wollen, monetär schwer verwertbar sein wird und uns trotzdem für diesen Weg entschieden. Nennt man auch Passion!
Unsere Fähigkeit hilft uns dabei, das Geschehene zu verarbeiten, uns selbst näher zu kommen, unseren Gefühlen Ausdruck zu verleihen, Situationen noch einmal zu durchleben, uns mit unserer Fähigkeit in den Köpfen anderer Menschen einzumischen und im besten Falle etwas zu schaffen, das weit über unsere Vorstellung hinausgetragen wird. Dorthin, wo andere Menschen an denselben Stellen wie wir anfangen zu fühlen.
Wie schon der Schriftsteller Thomas Mann schrieb: Damit ein Geistesprodukt auf eine breite Masse stossen kann, muss eine geheime Verwandtschaft, ja Übereinstimmung zwischen dem persönlichen Schicksal seines Urhebers und dem allgemeinen des mitlebenden Geschlechts bestehen.
Und wir erhoffen uns natürlich Sympathie dafür, auch wenn wir es niemals zugeben würden. Denn die Gabe zu schaffen ist im Endeffekt alles, was wir haben, wenn wir ehrlich mit uns sind. In Momenten, in denen wir ohne euch sind und uns einschliessen, kreativ zu sein. Stunden können vergehen, in denen wir wie kleine Kinder begeistert sind von unserem Gehirn und dem, was wir damit anstellen können.
Trotz so mancher Widrigkeit gibt es nichts Spannenderes, als in das Innenleben eines kreativen Menschen einzutauchen, sich in den Gedanken des anderen zu verlieren und in den unpassendsten Momenten über die Komplexität des Lebens zu diskutieren. Am besten gemeinsam, in der Badewanne.
Es ist alles möglich, sofern man eine gute Kommunikation beibehält, dem anderen nicht das Gefühl gibt, zweite Wahl zu sein, und sich auf einen gemeinsamen Terminkalender einigt, der weder das Leben des einen noch des anderen bevorzugt. Denn ob kreativ tätig oder nicht: Gleichberechtigt sollte es sein.
Die Bilder in diesem Artikel stammen aus der Fotokollektion «Pictures of that Day» von Jamie Livingston, der über 18 Jahre hinweg (1979–1997) jeden Tag ein Polaroid-Foto geschossen hat.