Rupi Kaur hat ein Talent: Das progressive Gespür dafür, sich dorthin zu stellen, wo man sie nicht haben will. Ihre Social-Media-Posts halten sich in Form eines Gedichtbandes seit 53 Wochen auf der Bestseller-Liste der «New York Times» und ihr menstruierender Unterleib sorgte auf Instagram für Grundsatzdiskussionen. Sie ist eine südasiatische Frau, eine braune Frau, wie sie sich selber bezeichnet, und sie kämpft für mehr Selbst- und Nächstenliebe in unserer Kultur.
Nun ist ihr Buch «Milch und Honig» in deutscher Sprache erschienen. Die 24-jährige Kanadierin handelt darin vier grosse Themen in poetischer Form ab:
Die Themenauswahl könnte pathetischer nicht sein. Die Gedichte handeln von Vergewaltigung, seelischen Übergriffen, von hemmungslosen und hemmungsvollen Beziehungen. Sie irritieren im selben Masse, wie sie vertraut wirken, und sind oft so einfach geschrieben, dass man an ihrer Echtheit zweifelt.
Wer das Buch denn auch ohne jeglichen Hintergrund in die Hände kriegt, dem scheint die Möglichkeit, ein manisch-depressiver Teenager habe die Tumblr- und Instagram-Posts seiner grössten Internetstars ausgedruckt und zu einem Buch zusammengeklebt, unglaublich plausibel. Weder reimen sich die Wörter, noch findet man Satzzeichen in Kaurs Poesie. Alles in Kleinbuchstaben und kein einziges «Gedicht» ist betitelt. Das ganze Werk schreit nach: «Wir sind die neue Generation. Und wir machen alles voll anders.»
Doch Rupi Kaurs Erfolg spricht für sich. Auf Instagram folgen ihr über eine Million Menschen. Und das entspricht ziemlich genau auch der Anzahl ihrer verkauften Bücher. Es scheint, als sei «Milch und Honig» eine Art Testament für eine wachsende Gruppe junger Frauen – und junger Männer – die Kaurs Haltung gegenüber Selbstliebe und Gesellschaftskritik zustimmen.
Ich habe mich durch das Buch geackert (damit ihr es nicht tun müsst) und mir bei allen vier Kapiteln die zwei Fragen «Worüber schreibt sie?» und «Wieso funktioniert das?» gestellt.
Worüber sie schreibt:
Im Kapitel «Schmerz» schreibt die Autorin von Missbräuchen und Missständen. Ersteres in Form von expliziten Übergriffen. Sie erzählt, wie es zu solchen kommt, wer Schuld trägt und wer nicht. Letzteres, die Missstände, erläutert sie in Form von Situationen. Sie skizziert Szenen, wie sie sich jede und jeder vorstellen kann, und eröffnet damit grosse und wichtige Fragen ohne konkret zu antworten. Sie weist keine Schuld zu, aber schafft es dennoch zu zeigen, dass die unterschiedlichen Rollen von unterschiedlichen Menschen evidente Probleme generieren.
Wieso es funktioniert:
Rubi Kaur wird verstanden. Sie verpackt schwere und komplexe Themen in einfache Sprache. Sie schreibt nicht von der patriarchalen Optik der Porno-Industrie, die mit ihren Inhalten eine heteronormative Gesellschaft ermöglicht; Kaur schreibt von Szenen und Gefühlen, die jeder erleben kann und deshalb ohne grosses Vorwissen zu verstehen vermag.
Worüber sie schreibt:
Im Kapitel «Die Liebe» liest man viel über Verlangen, über die Macht der Liebe und was sie mit einem anstellt.
Wieso es funktioniert:
Ist man verliebt, passiert es schnell, dass die Seele von der Realität wegdriftet. Man verliert die Fähigkeit, rationale Urteile zu fällen, und befindet sich oft in Momenten, in denen man so intensiv zu fühlen glaubt, dass die meisten Menschen gar nicht mehr in Bildern und Worten denken können. Rupi Kaur beherrscht es jedoch, die Gefühle in jenen Momenten wörtlich und bildlich wiederzugeben. Sie findet Ausdrucksarten, die ihrem jungen Publikum zeigen, dass man immer noch an die Liebe glauben darf, dass es normal ist, sich in ihr zu verlieren und dass man sich nicht für sie zu schämen braucht; auch wenn man auf Erlebnisse, wie sie im vorhergehenden Kapitel besprochen wurden, zurückblicken muss.
Worüber sie schreibt:
«Das Zerbrechen» ist für Rubi Kaur keine Einzeltat. Sie schreibt im dritten Kapitel des Buches, wie die unbefangene Liebe aus Kapitel zwei zur Befangenheit wird. Und beim Lesen der Gedichte merkt man, es passiert einfach. Man ist machtlos.
Wieso es funktioniert:
Es gibt Situationen, mit denen ist man überfordert. Man macht Vorwürfe, Unterstellungen und man ist vor allem enttäuscht. Bei vielen Menschen kommen diese Gefühle durch das private Umfeld oder durch gesellschaftliche Gegebenheiten zustande. So auch bei Rupi Kaur. Die Qualität dieses Kapitels liegt jedoch darin, dass die Autorin erkannt hat, dass sie auch selbst Schuld an jenen Situationen hat. Und dass der Schmerz aus dieser Schuld ein wichtiger Bestandteil des Lebens ist.
Worüber sie schreibt:
Wer Mühe hat mit Motivationssprüchen und Laienphilosophie, hüte sich vor dem Kapitel «Das Heilen». Denn es besteht genau aus dieser Art Geschreibe. Kurze aneinandergereihte Sätze, die so einen Augen öffnenden Charakter haben. Dabei stehen die Augen bereits schon lange offen.
Wieso es funktioniert:
Die Sprüche machen sich gut unter einem schönen, nachdenklichen oder traurigen Selfie. Sie entsprechen der Philosophie von Rupi Kaurs Zielgruppe. Dazu gehören junge Menschen, die begreifen, dass mit der Welt etwas nicht in Ordnung ist, aber nicht ausdrücken können, was es genau ist, das sie denn stört. Gegenüber den vorhergehenden drei Kapiteln fällt der finale Teil des Buchs stark ab. Die Gedichte sind derart allgemein gehalten, dass sie vor lauter Pathetik keine Identifikation mehr zulassen.
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