Es ist kurz vor sechs Uhr Abends. In zwei Stunden spielt im Zürcher Volkshaus Tokio Hotel ein Konzert. Vor wenigen Jahren füllte die Musiktruppe aus dem deutschen Magedeburg noch das Hallenstadion. Das ist nun nicht mehr der Fall. Trotzdem hocken bereits jetzt hunderte Fans in einer überraschend langen Schlange vor dem Eingang des Theatersaals. Sie stimmen Lieder an, machen Selfies und beobachten in regelmässigen Abständen, ob sich die Tür zum Einlass öffnet.
Ha! Es gibt sie noch, die Tokio-Hotel-Fans. 🙈 Konzertbeginn ist um 20.00... pic.twitter.com/61aIXZMypB
— Nadja Brenneisen (@NadjaBrenn) 27. März 2017
Ich habe die Fans von Tokio Hotel immer bewundert. Nicht weil ich sie um ihren Geschmack oder ihren Stil beneidet habe, nein, mich faszinierte ihre Attitüde. Wer sich zu den Zeiten von «Schrei» und «Monsun» offen zu der Band mit dem verrückten Leadsänger bekannte, wurde in der Dorf-Community, in der ich gross wurde, geächtet, ausgelacht, manchmal sogar verhauen. Die Fans von Tokio-Hotel hatten aber diese «zero Fucks given»-Haltung. Sie genierten sich nicht mit einem Tokio-Hotel-Shirt in den Turnunterricht zu kommen oder an der Klassenfete mit zwei Zentimerter dickem Lidstrich aufzutauchen.
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Tokio Hotel ist mein Leben. Ich kann das nicht erklären, wieso das so ist. Es ist einfach ein Gefühl, das sich richtig anfühlt. Ich liebe die Musik, ich liebe den Style und vor allem fasziniert mich das androgyne Aussehen von Frontsänger Bill. Tokio Hotel war einfach anders als die anderen Teenie-Bands und ich war anders als die anderen Teenies. Das hat gepasst. Einmal ging ich mit einem Tokio-Hotel Fanshirt in den Turnunterricht. Ich wurde als letzter ins Team gewählt.
Tokio Hotel ist eine Teenie Band – nicht weil ihre Musik nur für Teenies geeignet ist, sondern weil ihre Lieder in mir ein Gefühl von Jugendlichkeit erwecken. Ich war damals Mitte 30 als ich und mein Sohn zeitgleich Fans wurden. Ich jedoch etwas heftiger als er. Ich habe mir damals die Haare schwarz gefärbt, weil Bill ja auch schwarze Haare hatte.
2005 las ich zum ersten Mal von Bill in der Bravo. In den folgenden fünf Jahren bestimmte alles, was um die Band herum passierte, mein Leben. Es gab damals ein Schweizer Tokio Hotel Fanforum. Da habe ich total viele Leute kennengelernt. Wir trafen uns manchmal einfach so in grossen Gruppen, haben Lieder gesungen und übers Leben gesprochen. Wir fühlten uns alle sehr verbunden. Ach, war das schön. Die meisten waren Mädchen. Denn die meisten Jungs trauten sich nicht ihr Fan-Sein offen zu leben. Sie hatten Angst, dass die anderen dann denken, sie seien schwul.
2005 ging ich durch den Monsun und bin nie wieder raus. Zehn Jahre später durfte ich das erste Mal Tom umarmen, mein Schwarm. Von diesem Moment an ist mein Fan-Level nochmals um einiges gestiegen. Dieses Jahr gehe ich an jedes einzelne Konzert in Europa und kaufe mir dauernd Meet&Greet-Karten. Auch hier in Zürich gönne ich mir für 226€ 30 Sekunden mit meinen Idolen. Das ist es mir Wert. Auch das fast täglich mehrstündige Anstehen ist nichts im Vergleich zu dem guten Gefühl, das mir die Jungs von Tokio Hotel geben. Für meinen Fanatismus werde ich ab und zu belächelt, aber nie wirklich runtergemacht. Da stellen andere Tokio-Hotel Fans ein grösseres Problem für mich dar. Viele sind nämlich neidisch, weil ich immer so weit vorne stehen kann.
Bill hat mir gezeigt, wer ein guter Mensch ist und auf wen ich pfeifen kann. Als ich 15 war, hat sich meine Tante das Leben genommen. Die Lieder von Tokio Hotel haben mich von diesem Schicksalsschlag abgelenkt. In Bill fand ich eine neue Identität. Ich habe jede seiner Style-Phasen mitgemacht. Ich habe alle Piercings, die Bill hat. Und jetzt fange ich auch damit an, seine Tätowierungen zu kopieren. Bill und ich sind nur ein paar Tage hintereinander geboren. Ich werde mein Leben lang eine starke Bindung zu ihm haben. Getroffen habe ich ihn leider noch nie.
«Durch den Monsun» war die erste CD, die ich mir gekauft habe. Bill sprach mir damals mit seinen Texten direkt aus der Seele. Ich hätte mich gerne so gekleidet wie er, aber meine Eltern haben mir das verboten. Den Bettbezug mit den Gesichtern der Tokio-Jungs kriegte ich trotzdem. Und auch heute schlafe ich am besten, wenn Tom, Georg und Bild mein Kissen zieren.
2008 begann ich Deutschunterricht zu nehmen. Denn zwei Monate davor hörte ich zum ersten Mal das Lied «Spring nicht!» auf MusTV; das war damals so eine Art russisches MTV. Mich überkam eine regelrechte Tokio-Hotel-Manie, die bis heute noch kein Ende gefunden hat. Zusammen mit einer Freundin, die ich auf einem Konzert kennenlernte, reiste ich während fast der gesamten Tour der Band hinterher. Heute habe ich einen VIP Pass und durfte die Jungs schon vor dem Konzert treffen.
«Tokio Hotel ist so billig und jeder, der die hört, ist eh total bescheuert» – solche Sprüche musste ich mir während der Schule dutzende Male anhören. Das war mir aber scheissegal.
Von den Texten verstehe ich wenig bis gar nichts. Denn ich spreche weder Deutsch noch Englisch – nur Französisch. Aber der Sound und die Atmosphäre, die diese Jungs kreieren ist einfach fantastisch. Das ist mein viertes Konzert und hoffentlich nicht das letzte.
Ich lag im Koma, für mehrere Wochen. Meine Überlebenschancen lagen bei zehn Prozent. Meine Freundin Brigitte besuchte mich damals im Krankenhaus. Sie spielte die Lieder des damals brandneuen Albums «Kings of Suburbia» ab. Wir mochten die Band beide sehr gerne und Brigitte befürchtete, dass ich die neuen Lieder nie mehr bewusst hören werde. Aber ich wachte auf. Zu Bills Stimme und jetzt bin ich hier.
Zuerst werden Leute mit VIP-Pässen, wie Rita, Kristina oder Carina aufgerufen. Dann kommen alle mit den normalen Tickets an die Reihe. Vorband gibt es keine. Bis Viertel nach neun bedeckt ein schwarzes, riesiges Stofftuch das Bühnenbild. Kreischend erheben sich die Stimmen zeitgleich mit den Smartphones in die Höhe, als der erste Ton erklingt. Süffiger Synthie-Pop dröhnt aus den Boxen. Ich wippe mit, find's sogar erträglich. Aber die Hingabe der Fans verstehe ich nicht. Das werde ich wohl auch nie verstehen können. Gott sei Dank muss ich das auch nie.