Kommentar
08.07.2019, 21:0109.07.2019, 14:51
Während manche für wenig Geld
nonstop arbeiten und ihren Idealismus ohne Rücksicht auf Verluste verfolgen,
sind andere nicht bereit, aus der schieren Freude an der Arbeit ständig mehr zu tun als
verlangt. Probleme gibt es dann, wenn zwei Extreme in der freien Wildbahn des
modernen Arbeitslebens aufeinanderprallen.
Erst letztens ist es mir wieder
passiert. Ich lag abends auf dem Sofa und hatte ein Stück Schokolade in der
Hand, als mein Smartphone aufblinkte. Darauf zu sehen: Die Nachricht einer Redakteurin,
die mir mitteilte, sie sei «jetzt vom Podcasten nach Hause gekommen» und könne
sich «nun meinem Text widmen», den sie eigentlich schon gegen Mittag fertig haben wollte.
Ich antwortete nicht.
Es war mir
unangenehm, so eine Nachricht nach Feierabend zu bekommen. Als ich am nächsten
Morgen in mein E-Mail-Postfach schaute, staunte ich nicht schlecht. Die Redakteurin
hatte mir um 21 Uhr Korrekturen für einen Text gesandt, und mir einen grosszügigen
Tag (Achtung, Ironie) Zeit gegeben, um ein neues Interview zu organisieren und
ihre Änderungen einzuarbeiten.
Dass ich auch als Freelancerin am besagten Tag andere Termine haben könnte, war ihr egal. So zumindest entnahm ich es der E-Mail, die mich an den
drohenden Druckschluss am Freitag erinnerte.
Was für sie normal war, stellte mich
vor eine organisatorische Herausforderung. Merkte die Redakteurin nicht, unter
welchen Bedingungen sie arbeitete? Oder nahm sie die Nachtschicht hin, ohne
gross darüber nachzudenken?
Selbstausbeutung beschreibt laut Definition die Bereitschaft, mehr, härter und länger zu arbeiten, als es erforderlich wäre und vom Arbeitgeber erwartet wird.
Der Grund dafür kann sowohl
Druck vom Chef, als auch der selbstbestimmte Antrieb sein, der in der Kreativbranche
einen guten Ruf geniesst.
So wundert es wenig, dass sich auch
die Redakteurin guten Gewissens übernahm und dabei schleissige Arbeit an meinem
Text leistete. Dass sie sich Extrastunden aufbürdete, die natürlich längst in
ihren unbezahlten Feierabend fielen. Ja, dass sie gar nicht erkannte, dass andere
nicht vor hatten ihre Pläne aufzugeben, nur, um jemandes Extrawürste – in diesem Fall ihre – zu erfüllen.
Wir hatten ein grundsätzlich
unterschiedliches Verhältnis unseren eigenen Grenzen gegenüber – und damit
einen nur schwer zu entwirrenden Konflikt.
Hart arbeitende Menschen, die sich dabei feiern, hart arbeitende Menschen zu sein.
Das Problem an der Selbstausbeutung
ist nicht nur ihr gutes Image, das in Form von «Work hard play hard»-Motiven
daherkommt. Sie ist zu allem Übel effizienter als die Fremdausbeutung, das
schrieb schon Byung Chul-Han, weil sie mit dem Gefühl der Freiheit einhergeht. Dadurch
wird Ausbeutung ohne Herrschaft möglich. Menschen, die sich selbst ausbeuten, sehen
sich selbst schlicht als engagierte und fromme Mitarbeiter. Ihnen ist «Geld nicht so
wichtig», weil sie ihre Motivation erst gar nicht mit soetwas Schmutzigen in
Verbindung stellen möchten.
Oft nehmen sie an, dass andere
genauso bereit sind wie sie selbst, Mehrarbeit zu leisten und sagen Sätze wie: «Jetzt stell dich doch nicht so an! ;)» kurz vor Schluss. Es sind die, die jeden Tag zwei Stunden
länger bleiben und sich in Hoffnung auf einen höheren Posten kaputtarbeiten,
ohne zu bemerken, dass ihre Anstrengung heute nicht mehr zwingend in mehr Geld,
Prestige oder Anerkennung mündet.
Wer
sich selbst ausbeutet, beutet im nächsten Schritt auch meist andere aus.
Menschen, die sich freiwillig oder
unbemerkt unfreiwillig selbstausbeuten, leiten den Druck ihrer Vorgesetzten ungefiltert an
andere weiter und erkennen dabei nicht, dass nicht jeder und jede unbezahlt länger an einem
Auftrag dranbleiben kann, der schon vorgestern fertig sein sollte. Es soll sogar Menschen geben, die arbeiten, weil sie
Geld nach Hause bringen müssen und nicht, weil es ihrer Selbstverwirklichung
dient. Ja, auch in der Kulturindustrie.
Und so landen die intrinsisch motivierten Selbstverwirklicher mit den vermeintlich
geldgeilen Selbstversorgern in einer gemeinsamen Projektarbeit, um sich
gegenseitig das Bein zu stellen. Weil die einen sich nicht in die prekäre Lage der anderen hineinversetzen können und die anderen nicht in den
Arbeitsethos des Gegenübers. Weil die einen meinen, Geld sei nicht so wichtig
und die anderen, ohne diesem nicht arbeiten zu können.

bild: shutterstock
Selbstausbeutung bedeutet – gerade
unter Freiberuflern – zu springen, wenn der Auftraggeber ruft. Um 20:00 Uhr auf
Abnahmen zu warten, obwohl die Freunde schon etwas Trinken gegangen sind. Sie
bedeutet, in der Bittstellerposition zu verharren und sich einzureden, dass es
schon okay sei, nicht bezahlt zu werden für kommerzielle Leistungen. «Selbst
Schuld», sagen sich die Selbstverwirklicher, muss ich das nächste Mal eben
besser sein, auch, wenn keiner so genau definiert hat, wie dieses «besser» aussieht.
Wo die Selbstausbeutung anfängt, muss jeder für sich wissen.
Was die einen als Passion
begreifen, hat für die anderen nichts (mehr) mit Spass gemein. Wo der eine
gerne fünf Stunden länger sitzt und hörig um Antworten bettelt, möchte der nächste lieber ins Bett.
Auch ich habe zehn lange Jahre gebraucht,
um für mich zu definieren, wann Ausbeutung beginnt und wie ich ihre schöne
Fassade demaskiere. Wie oft habe ich «Ja» gesagt, und bin «gratis» auf ein
Konzert gegangen, um bis zum nächsten Morgen darüber berichtet zu haben? Wie oft habe ich als Anfang
Zwanzigjährige «Ja» gesagt, in Hoffnung auf eine etwaige Anstellung? Erst wenn die
eigenen Erwartungen unerfüllt bleiben und vage Zukunftsvorstellungen zerbrochen
sind, zeigt die Selbstausbeutung ihr wahres Gesicht. Samt Augenringe.

bild: shutterstock
Seit ich für mich definiert habe,
was ich vom Leben möchte, geht es mir besser. Ich habe aufgehört, mich für respektlose CEOs zu verbiegen. Ich
habe wieder einen richtigen Feierabend. Ich liege nicht um 21 Uhr mit
Fachlektüre im Bett. Ich sage Aufträge ab, die unter meiner Minimumgrenze
liegen. Ich mache es nicht «ausnahmsweise doch gratis» für einen grossen
Konzern, weil ich es «gerne tue». Ich habe mir juristische Hilfe geholt. Ich
bin Organisationen beigetreten. Ich setze und halte und verteidige meine Regeln
als seien sie Gesetz, weil genau dieses uns Kreative wie Nicht-Kreative nicht
ausreichend vor miesen Deals schützt.
Bevor ich mein schlechtes
Bauchgefühl unterdrücke, stelle ich mir folgende Fragen: Nehme ich ausnahmsweise einen
Auftrag an, der schlecht oder gar nicht bezahlt ist, weil er mir Spass macht?
Ab wie vielen Extrastunden beute ich mich selbst aus, auch, wenn es Bock macht? Und, die vielleicht
wichtigste Frage: habe ich mit meinem Gegenüber darüber gesprochen, wie ich gerne arbeite?
Was keinem schaden kann: Reden. Aufzuhören,
sich selbst auszupressen wie eine vertrocknete Orange, wenn man damit andere missbraucht. Aufzuhören, konstant 200 Prozent zu geben, wenn 90 Prozent reichen. Anzufangen,
Jüngere über das aufzuklären, was man bereits aus jahrelanger Erfahrung in seiner
Branche weiss und ihnen dabei zu helfen, die Fehler zu vermeiden, die man aus
Naivität und Gutgläubigkeit selbst begangen hat.
Der Zirkel muss schleunigst gebrochen werden!
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