Sie liege oben auf einem Hügel – die kleine Kapelle, für die sich niemand mehr verantwortlich fühlt. Jonathan Jimenez brennt für solche Informationen. Diese hier kam von einem alten Mann mit Gehstock in der Hand und Zigarre im Mundwinkel. Irgendwo im französischen Hinterland. Der Fotograf, der sich üblicherweise nicht mit seinem amtlichen Namen vorstellt, sondern noch immer an seinem Jungend-Spitznamen Jonk festhält, ist besessen von einem einzigem Thema: Verwesung.
bild: jonk
Seit fünf Jahren reist er durch ganz Europa, um Orte zu besuchen, die sich die Natur zurück erobern will. Als Jonk diese Kapelle hier aufsuchte, musste er feststellen, dass sein etwas in die Jahre gekommener Informant nicht ganz recht hatte. Auf einmal kreuzte ein anderer Typ – ebenfalls mit Zigarre im Mundwinkel – in der verwucherten Mini-Kirche auf und behauptete, er sei der Besitzer jener Ruine.
Gegenüber watson erzählt Jonk schwelgend von seinen Erinnerungen: «Ich habe insgesamt 700 verlotterte Gebäude fotografiert. Ich wurde unzählige Male erwischt und weggewiesen. Damals bei der Kapelle in Frankreich brauchte es viel diplomatische Redegewandtheit meinerseits, um der Situation ohne ausgeschlagene Zähne zu entkommen.»
Ein ehemaliger Palast in Polen.bild: jonk
Als er 17 war unternahm der Fotograf das erste Mal eine grössere Reise. Er verbrachte den Sommer in Barcelona und ohne es absichtlich zu wollen, wurde er zum Mitglied einer Sprayer-Gang. «Da begann alles», sagt Jonk. «Auch meinen Spitznamen kriegte ich da. Als Graffiti-Künstler brauchst du einen Decknamen. Denn das, was du tust ist meistens illegal. Du kannst deine Werke also nicht mit deinem richtigen Namen unterzeichnen.»
Mit der Zuneigung zur Spraydose, kam auch die Affinität fürs Heruntergekommene. Oft haben sich Jonk und seine Crew in verlassene Gebäude zurückgezogen, um an ihren Sprayer-Fertigkeiten zu arbeiten.
«Die Intensität der Stimmung und Schönheit des Vorbeirasselnden, die sich im Raum niederschlägt, hat mich verhext.»
Jonk
Mit dieser speziellen Art der Schönheit hat sich der mittlerweile 33-jährige Fotograf nun intensiv beschäftigt. In seinem Buch «Naturalia – reclaimed by nature» zeigt er 228 Moment-Aufnahmen des bitter-schönen Prozesses des Verfalls. Dabei entstand eine aussergewöhnliche Dokumentation vom Kräftemessen zwischen Natur und Kultur.
Für uns stellt er hier vier seiner Lieblingsaufnahmen ein bisschen näher vor.
Ein fürstliches Gewächshaus in Belgien
bild: jonk
«Dieses Gewächshaus gehört zu einem alten Schloss in Belgien. Das Schloss selber ist derart verlottert und zugewachsen, dass man es fast nicht betreten kann. Ich habe es jedoch geschafft bis in die Schlosshof vorzudringen, wo ich dieses Gewächshaus entdeckt habe. Vom Schloss habe ich im Internet erfahren. Ich treibe mich da auf einigen Freak-Foren rum, wo man sich über alte verlassene Gebäude unterhaltet. Dies ist eines meiner Lieblingsbilder. Ein Gewächshaus ist dazu da, Pflanzen kultiviert, also in einem menschlichen Rahmen, zu halten. Jahre später haben nun die Pflanzen die Überhand gewonnen.»
Ein Friedhof für Züge in Ungarn
bild: jonk
«Dieser Friedhof ist eine Art lebendige Sehenswürdigkeit. Auf dem Gelände werden eigentlich immer noch Züge repariert. Doch viele alte Modelle liegen brach und bilden nun das Zuhause vieler Kletterpflanzen. Ich habe mich geschickt an den Zugingenieuren vorbeigeschlichen, um in den hintern Teil, also in den Zugfriedhof, zu gelangen. Während ich munter am Fotografieren war, fuhr ein Auto vor. Ich musste mich unter einem der alten Wagons verstecken, um nicht entdeckt zu werden.»
Ein verwahrlostes Gotteshaus in Italien
bild: jonk
«Diese Kirche in einem kleinen süditalienischen Städtchen ist derart verwildert, man kommt sich bei ihr vor, als wäre man auf einem längst ausgerotteten Planeten gelandet. Niemand kümmert sich mehr um dieses Gotteshaus. Die Tür stand einfach offen. Dies war eines meiner ‹ungefährlichsten› Abenteuer.»
Sowjetischer Kampfjet in Bulgarien
bild: jonk
«In Bulgarien liegt auf dem Hinterhof einer Schule dieser längst abgestürzte Kampfjet des ehemaligen sowjetischen Militärs. Ich glaube, das war eins der unglaublichsten Dinge, die ich bezeugen durfte. Ich meine ein Kampfjet, vielleicht noch Munition drin. Liegt einfach so dort. Hinter einer Schule. Wieso? »
Die Frage danach, wieso die Menschheit ab und zu plötzlich ihre eigenen Erzeugnisse aufgibt und sie dem Lauf der Zeit überlässt, findet wohl niemals eine abschliessende Antwort. Gewiss ist nur, dass die Orte, die daraus entstehen können – verlassene Orte, ausgeliefert dem Kampf zwischen Natur und Kultur – Orte sind, die faszinieren.
Noch mehr Bilder von Jonks Verwesungsästhetik gibt es hier:
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Verlassene Orte: Das Kräftemessen zwischen Natur und Kultur
Ein Spital in Italien
Für alle, die nicht genug kriegen: Jonk stellt seine Verwesungsbilder auch auf Instagram.
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Die beliebtesten Kommentare
Micky g
18.03.2018 22:40registriert November 2015
Erstaunlicherweise ist kein einziges Bild aus den baltischen Staaten dabei, wo es an gefühlt jedem Ort verfallende Relikte aus Sovietzeiten gibt!
Sänger Mike Peters der britischen Band The Alarm mit 66 Jahren gestorben
Der Frontmann der Band The Alarm, Mike Peters, ist tot. Er sei im Alter von 66 Jahren an Krebs gestorben, meldete die britische Nachrichtenagentur PA unter Berufung auf eine von ihm mitgegründete Wohltätigkeitsorganisation.