Die Rampe ist zu steil. RollstuhlfahrerInnen schaffen es nicht selbstständig aus den neuen, 1.9 Milliarden teuren SBB-Zügen heraus. Ergo: Die neuen Transportmittel sind für Menschen mit einer Behinderung nicht selbständig benutzbar.
Für die SBB und den Hersteller «Bombardier» hagelte es deshalb viel Kritik in den letzten Tagen. Die lautstärkste kam vom Behinderten-Dachverband «Inclusion Handicap» in Form einer 60-seitigen Beschwerde. Mehr dazu im folgenden Video:
Eine Zugfahrt mit Rollstuhlfahrer und Aktivist Cem Kirmizitoprak zeigt auf, welche ÖV-Probleme Rollstuhlfahrer ohnehin schon haben.
Nüchtern wedelt Cem mit dem Zeigefinger. «Jetzt muss er mich bloss noch sehen», sagt er müde und erklärt:
«Den ‹Thurbo›, den Ostschweizer Regionalzug, kann ich eigentlich spontan nehmen. Der hat keine Treppe beim Eingang. Aber blöderweise gibt es da eine Lücke zwischen Wagon und Perron. Deshalb muss ich immer gut aufpassen, dass mich der Lokführer sieht in seiner Kabine; damit er mit dem Brett kommt.»
Cems Zeigefinger bleibt gestreckt. 25 Jahre alt ist der Aktivist und Inklusionsberater mit kurdischen Wurzeln. Seine Kindheit verbrachte er in Izmir. Meistens auf einer Couch oder auf dem Boden. Heute lenkt er seinen Rollstuhl per Joystick.
«Er hat mich gesehen», informiert Cem, macht einen U-Turn und kommt vor der nächsten Tür zu stehen.
«Bis wohin geht's?» – «Herisau.»
Im Zug betet Cem in seinen eigenen Worten herunter, was in der Broschüre «Autonomes Reisen» der SBB drinsteht.
«Also eben diese ‹Thurbos› gehen eigentlich ganz easy. Da muss man einfach gucken, dass der Lokführer oder der Kondi kommt und das Brett hinlegt. Dasselbe bei den Doppelstockzügen, bei vielen S-Bahnen und wenn man Glück hat Bussen und Trams. Klar, da ist man immer selber verantwortlich, dass dann auch wirklich einer kommt. Das klappt nicht immer, aber meistens.
Ganz blöd wird es bei den älteren Zügen, denen mit der Treppe im Eingang. Da muss ich mich jedesmal eine Stunde vorher anmelden, damit ich mitfahren kann. Vergessen wurde ich auch schon.
Am besten sind aber die Züge, bei denen automatisch so ein Brett rausfährt. Das sind im Grunde die einzigen ÖV, die ich wirklich autonom benützen kann. Wobei man bedenken muss: Der SBB-Fahrplan ist immer ohne Gewähr. Mit Verspätung muss ich immer rechnen. So ist das.»
Das scheint eine Lösung mit System zu sein. Cem dementiert jedoch: «Für viele Menschen tönt das logisch, ich verstehe. Das ist es aber überhaupt nicht. Für einen Menschen mit Behinderung bedeutet einmal Zugfahren, sich mindestens fünf Mal richtig heftig zu nerven. Und es werden nicht weniger Male. Und eins vorweg: Ich nerve mich selten wegen Pendlern.»
In der SBB-App kann man nachschauen, welche Zugformationen jeweils um welche Zeit im Einsatz sind. Für Menschen, die im Rollstuhl sitzen, ist diese Information von ausgesprochner Wichtigkeit. Inwiefern die gewünschte Reiseroute rollstuhlgängig ist, hängt davon ab, welche Eisenbahnmodelle unterwegs sind.
Wenn Cem beispielsweise von St.Gallen nach Luzern reist, muss er sich sorgfältig erkunden, welche Verbindung besser und welche schlechter funktioniert. Gegebenenfalls muss er sich dann telefonisch beim «Handicap Center» anmelden.
Cem sagt dazu: «Mühsam wird es vor allem dann, wenn Züge ausfallen oder es einen Formationswechsel gibt. Dann sind nämlich auch die Leute vom Paketpersonal verwirrt. Ja, richtig, es sind die Leute vom Paketdienst, die Rollstuhlfahrern auf dem Perron einsteigen helfen. So viel also zum sogenannten ‹Autonomen Reisen›.»
«Autonomes Reisen» ist ein Recht, das seit 2004 mit der Lancierung des «Behindertengleichstellungsgesetzes» gilt. Es verlangt, dass bis 2023 in der Schweiz alle Menschen die öffentlichen Verkehrsmittel selbstständig benützen können.
Selbstständig, das heisst ohne jegliche Hilfe von Bahnpersonal, von persönlicher Begleitung oder anderen Passagieren. Ohne gestreckten Zeigefinger, damit der Schaffner ein Brett vor die Zugtüre legt und ohne «Äxgüsi, könnten Sie mir bitte!».
Cem meint dazu: «Momentan bin ich beim Reisen auf Menschen angewiesen. Menschen machen Fehler, das ist klar und verständlich. Mal werde ich am Perron vergessen, ein anderes Mal ist der Rollstuhlplatz mit Gepäck vollgestopft. In solchen Situationen begegnen mir die Leute jeweils mit einem ‹Oh, sorry! Wenn ich das gewusst hätte …›
Mich nervt das. Nicht die Fehler, die sie machen. Sondern, dass ich abhängig von ihnen bin. Könnte ich selbstständig Zugfahren, wäre ich für jeden Fehler selber verantwortlich. Das gefiele mir besser.»
Rollstuhlgängige WCs im Zug. Ein schwiergies Thema. Die SBB sagen, jeder Zug habe rollstuhlgängige Toiletten.
Cem sagt: «Wenn rollstuhlgängig heisst, dass man reinfahren kann, dass es eine Lehne an der Wand hat und dass man unter Umständen dann aber nicht einmal mehr die Türe schliessen kann – dann ja. Bei dieser Definition haben alle Züge mindestens eine rollstuhlgängige Toilette. Mir gefällt diese Definition aber nicht besonders.»
Wer selbst ein Handicap hat, meint Cem, sei auch wach für Anliegen anderer Menschen. Etwa derer von Gehör- oder Sehbehinderten.
Cem führt aus: «Auch meine blinden und gehörlosen Kollegen haben Mühe beim Zugfahren. Und es wird nicht besser mit den neuen Zügen. Die Handläufe seien gefährlich angebracht und die Bildschirme reflektieren so stark, sodass man die Ortsnamen, nicht mehr lesen kann. Ich rege mich nicht nur über meine eigenen Probleme auf. Beim Zugfahren nerve ich mich auch immer ganz solidarisch für alle anderen Menschen mit Behinderung.»
«Menschen mit Behinderung» – auf diese Formulierung legt Cem wert. Behinderung ist keine Eigenschaft, wie etwa ein Charakterzug oder eine Haarfarbe. Menschen sind nicht an sich behindert, Menschen werden behindert.
Cem sagt dazu: «Barrierefrei ist ein Stichwort, das in dieser Debatte häufig fallt. In Fünf Jahren soll der gesamte ÖV der Schweiz seine Barrieren abgeschafft haben. Per Gesetz!
Wenn ich aber dem Lokführer winken muss, damit er mir ein Brett hinlegt oder wenn ich jemanden bitten muss, mich anzuschieben, weil eine Rampe zu steil ist, dann ist das genau das: eine Barriere. Eine Schleuse, die ich nur passieren kann, sofern das jemand genehmigt.
Dies ist schliesslich nicht der Sinn des Behindertengleichstellungsgesetzes, sondern eine Verarschung. Nicht nur Rollstuhlfahrer werden von den SBB und dem Hersteller ‹Bombardier› veräppelt, sondern auch alle SteuerzahlerInnen. Die neuen Züge sind eine Missachtung des Gesetzes und ein Zeichen dafür, dass keine der beiden Firmen ein Interesse an unserer Inklusion hat. Manchmal denke ich: Die Verantwortlichen sollte man alle in einen Rollstuhl setzen, damit sie merken, dass all dies gar kein finanzielles Problem ist.»
Recherchen von «10 vor 10» ergaben, dass der Behinderten-Verband erst Ende Dezember 2017 die Chance erhielt, die Züge zu besichtigen. Dies trotz mehrjährigen Beantragens einer Werkstattbesichtigung. Die SBB werden nun noch diesen Monat beim Bundesverwaltungsgericht die Abweisung der Beschwerde beantragen. Gegenüber SRF bekundeten sie, dass ein neues Gerichtsverfahren bedauert werde. Den Millionen teuren Umbau für ebenenerdige Ausstiege nehmen sie nicht aus freien Stücken auf sich. Und zwar aus Gründen!
Seitens des Herstellers «Bombardier» und den SBB wird darauf aufmerksam gemacht, dass die Behindertenverbände bereits 2011 die Chance hatten, intensiv an einem 1:1-Holzmodell konzeptionelle Kritik auszuüben. Dies bestätigen auch die Verbände, wobei sie festhalten, dass ein solches Modell keine Grundlage für eine eine abschliessende Beurteilung sei. Der Zughersteller wiederum bekräftigt, dass genau dies der Sinn eines solchen lebensgrossen Holzmodells sei.