Ein Wow-Effekt, eine lange Herleitung, die Auflösung, die Erklärung, eine weitere Erklärung, ein moralisierender Schluss. Ein Dokfilm.
In der Regel sollen Dokumentarfilme nicht wertend ein nichtfiktives Zeitgeschehen oder eine Thematik abbilden. Das tun sie vermutlich nur selten. Aber wahrscheinlich ist genau dies der Grund, wieso sie so beliebt sind.
Hier kommen acht Dokus, die ihr zum einen gratis im Netz gucken könnt und die zum anderen die Faszination ums Dokumentarfilm-Genre hübsch illustrieren.
«Deutschland 1945. Stunde null. Ein Land in Trümmern. Die Städte verwüstet, die Menschen verstört.» So steht es in der Programmbeschreibung zur fünfteiligen ZDF-Doku «Das Erbe der Nazis». Es ist einer von vielen Lernfilmen der öffentlichen deutschen Sendeanstalt, die freizugänglich im Netz sind. Sie sind indes auch bezeichnend für eine klassische Art von Dokfilmen; denn sie befriedigt ein wichtiges menschliches Bedürfnis: Das Einordnen und Aufbereiten von Informationen. «Das Erbe der Nazis» ordnet vor allem historische Gegebenheiten ein. Es geht darum, wie sich der Nationalsozialismus auch nach Ende des Zweiten Weltkriegs in Deutschland erhalten konnte. Bis heute.
Der Film zieht Schlüsse, verurteilt Menschen und vermittelt dem Zuschauer immer wieder, dass wir heute schlauer sind als die Leute damals. Und trotzdem wird der Zuschauer animiert sich und seine Zeit kritisch zu untersuchen. Dies ist meines Erachtens genau eine Qualität, die eine gute History-Doku ausmacht: Es wird gezeigt, was Sache war, ist und vielleicht werden wird. Oft sind das Gegebenheiten, derer man sich vor der Doku noch nicht bewusst war. Das kann anspornen, kann dazu führen, dass man mehr Fragen stellt, mehr Dinge wissen will und schliesslich mehr gute History-Dokus gucken möchte.
Die 2016 veröffentlichte Doku «The Hidden Dark Web» zeigt einen normalen Typen, der viel im Internet rumhängt und denkt, den Zeitgeist zu verstehen. Doch dann lädt sich der Protagonist, der gleichzeitig der Produzent des Films ist, den Tor-Browser herunter und macht sich auf eine Reise ins Darknet. In zugänglicher YouTuber-Manier wird in «The Hidden Dark Web» erklärt, was hinter den Online-Kulissen vor sich geht, die so viele Menschen tagtäglich, stundenlang angaffen.
Indem der Doku-Protagonist immer wieder seine Vorgehensweise erläutert, bringt er dem Publikum nicht nur eine Thematik inhaltlich näher, sondern motiviert und ermutigt es auch dazu, unbekannte Dinge selber zu recherchieren.
«Samsara» ist eine ganz andere Art von Dokfilm als die beiden oberen. 101 Minuten lang dauert der Film, in dem kein Wort gesprochen wird, dafür prächtige Bilderwelten überwältigend aneinandergereiht sind. Auf folklorische Fächertänze folgen Klänge einer asiatischen Grossfabrik, gefolgt von Szenen einer idyllischen Berglandschaft und westlichen Massenveranstaltungen. «Samsara» bettet jede Faser des Seins, die eigenen wie die fremden, in ein unendliches Netz aus Schönheit und Perversion. Der Film kann sehnsüchtig stimmen, aber auch im selben Masse befremden.
Es müssen aber nicht immer kinematografische Doku-Meisterwerke oder aufwendig produzierte Blockbuster sein, die die Zuschauer in eine fremde Welt oder eine vergangene Zeit befördern. Der Dok-Film «Paris is Burning» aus den 1980er-Jahren kann sich in dieser Wirkung kongenial sehen.
Er berichtet über die Subkultur schwarzer und anderer nicht-weisser Queers, die im New Yorker Club Paris angeblich den Vouguing-Tanzstil erfunden haben. Dadurch, dass die Lebensrealitäten der Schwulen, Lesben, Transmenschen und Dragqueens dokumentarisch verfilmt werden, schwappt das Lebensgefühl der damaligen Zeit viel authentischer herüber, als es ein Spielfilm à la «Dirty Dancing» zu schaffen vermag.
Ein wichtiges Leitmotiv des Dokumentarfilm-Genres ist der Voyeurismus. In intellektuellen Diskursen ist es stark umstritten, ob ein europäisches Produktionsteam nach Afrika reisen soll, um jene fremde Kultur in einen 60-minütigen Lernfilm zu packen. Die deutsche Regisseurin Heike Mundzeck hat es trotzdem getan. Dabei ist die Dokumentation «Die Sache – Ein Feldzug gegen ein Tabu» entstanden, die über die weibliche Genitalverstümmelung in Äthiopien und anderen afrikanischen Staaten berichtet.
Dokumentarfilme sind klassischerweise auch hervorragende Spender für Angeberfakten. Sätze wie «In Südkorea ist das Alter massgebend für die gesellschaftliche Hierarchie» machen sich furchtbar gut als Tischgespräch beim nächsten Schwiegereltern-Znacht.
Wenn es dabei um die allseits beliebten Trigger-Themen Drogen, Sex und Waffen geht, ist das kanadische Medienhaus Vice wohl die Spezialistin. Ihre Dokumentation «World's Scariest Drug» wurde auf YouTube schon über 25 Millionen Mal angeschaut. Es geht darin um eine Droge, die ihren Konsumenten ihren freien Willen entzieht. Deshalb wird die Droge auch «Teufelsatem» genannt.
Apropos Trigger-Themen: Rashida Jones' Film «Hot Girls Wanted» porträtiert junge Highschool-Abgängerinnen, die ihre ersten Schritte in der Sexindustrie wagen. Dies ist ein Dokumentarfilm der Sorte «Was ist bloss aus unserer Welt geworden?!?». Dieser «Ausrufsfrage» entsprechend bedient die Porno-Doku auch eine gesamte Palette von Gefühlen: Mitleid, Ekel, Erhabenheit, Lust? – Sicher ist man sich bei diesem Film nie. Das liegt eventuell daran, dass die Doku fast nie interpretiert, sondern lediglich zeigt; eben dokumentiert.
Die letzte Dokfilm-Sparte, der in diesem Artikel ein Lobsang zukommt, ist die der entspannenden, hochgekochten Belanglosigkeit. Ein Paradebeispiel in dieser Kategorie sind die Koch- und Köchinnen-Porträts der TV-Serie «Chef's Table».
In 18 hochdramatisch geschnittenen und malerisch inszenierten Episoden wird einem das Gefühl vermittelt, dass eine acht Stunden lang niedergegarte Entenbrust und eine Fünf-Komponenten-Balance bei Salatsaucen eine enorme Wichtigkeit in unser aller Leben darstellt. Perfekt für einen Herumgammel-Sonntag, an dem man aus lauter Müdigkeit gar nicht richtig hinsieht und von den Bildern der hübsch hergerichteten Teller getrieben fast nicht anders kann, als das Internet nach dem besten asiatischen Liefer-Service der Stadt abzusuchen.