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Gesundheit

Interview: Was die Ernährung über uns Menschen aussagt

Die Frage, was wir essen, trägt heute stark zur Identitätsstiftung bei.
Die Frage, was wir essen, trägt heute stark zur Identitätsstiftung bei.
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Warum wir essen, was wir essen: «Meistens geht es um Selbstinszenierung und Zugehörigkeit»

Wir essen, um uns zu definieren, zu inszenieren und zu optimieren. Warum das so ist, erklärt der Ernährungspsychologe Thomas Ellrott.
16.03.2016, 07:0216.03.2016, 07:13
Bettina Musall / Spiegel online
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Ein Artikel von
Spiegel Online

Vegetarisch, vegan, glutenfrei, high-carb, low-carb und vor allem alles bio: Herr Ellrott, was sagen die Ernährungsstile unserer Zeit über die Menschen aus?
Thomas Ellrott: Einer der Megatrends heisst Individualisierung. Das Essverhalten «der» Menschen gibt es nicht mehr. Es gibt nur noch das Essverhalten jedes Einzelnen. Und es gibt immer mehr Extreme – zum Beispiel Männer, die ihre Männlichkeit über teures Beef inszenieren. Auf der anderen Seite der Skala die Hardcore-Veganer, auch das können Männer sein. Häufiger aber sind es Frauen.

Zur Person
Thomas Ellrott (Jahrgang 1966) leitet das Institut für Ernährungspsychologie an der Universität Göttingen. Der promovierte Mediziner steht auch der Deutschen Gesellschaft für Ernährung in Niedersachsen vor.

Was ist heute anders als vor 20 oder 50 Jahren?
Die Pluralisierung der Ernährungsstile. Das reicht von der sogenannten Steinzeiternährung oder Paleo-Diät, bei der alles so ursprünglich wie möglich sein soll, bis zum Functional Food, also genau dem Gegenteil, den künstlich optimierten Nahrungsmitteln. Am meisten getwittert wird derzeit über Vegetarismus und vor allem Veganismus. Aber Paleo und Kobe-Rind, also extrem hochwertiges Fleisch, sind auch weit vorn. Und die gefühlte Laktose- oder Gluten-Unverträglichkeit gehört ebenfalls zu den Hotspots.

Was heisst «gefühlt»?
Solche Leute meinen, es sei gesünder, auf Laktose oder Gluten zu verzichten, auch ohne eine entsprechende Diagnose zu haben. Manchmal werden gar Beschwerden mit anderer Ursache solchen populären Diagnosen zugeschrieben.

Geht es da noch um Gesundheit?
Bei manchen Menschen sicher, auch um Tierwohl oder Nachhaltigkeit. Immer häufiger geht es jedoch um Selbstinszenierung und Zugehörigkeit.

Thomas Ellrott.
Thomas Ellrott.
bild: Institut für ernährungspsychologie

Warum wird Essen so überhöht?
Wir leben in einer Welt, die schwer überschaubar ist. Gleichzeitig erleben wir einen Verlust von tradierten Ordnungssystemen wie Religion und Familie. Wir sind also auf der Suche nach Identität und nach Sinn. Die Hauptfrage, die sich Menschen heute stellen, lautet: Wer bin ich? Oder besser: Wer will ich sein? Wie will ich von anderen wahrgenommen werden?

Und da hilft es, kein Fleisch zu essen?
Es gibt Dinge, die man kurzfristig nur schwer oder gar nicht ändern kann. Die Frage etwa, woran ich glaube, hat viel mit meiner Herkunft und Familie zu tun, so etwas kann ich kaum beeinflussen. Auch wie ich wohne, ist nicht so schnell zu verändern. Anders ist es mit den Dingen, die wir konsumieren. Welches Smartphone ich habe, was ich anziehe, wie mein Körper aussieht und wofür ich mich engagiere – das sind Facetten eines Ichs, die sich vergleichsweise gut modellieren lassen.

Sofern die finanziellen Mittel dafür vorhanden sind. 
Richtig. Und da trägt die Frage, was und wie viel ich esse, heute stark zur Identitätsstiftung bei. Denn mein Ernährungsstil ist leicht änderbar. Selbst mit einem beschränkten Budget.

Früher gab es den Diätwahn. 
Zur Identitätsbildung laden Diäten eher nicht ein. Sie sind ein ziemlich trockenes Mittel zu dem Zweck, Kilos zu verlieren. Diät ohne Religion, ohne Ideologie funktioniert für die Sinnsuche nicht. Dafür braucht es einen grossen Überbau, wie eben Nachhaltigkeit, Klimaschutz oder Tierwohl.

Wie wird aus einem individuellen Ernährungsverhalten ein Trend?
Wir kommunizieren Zugehörigkeit heute anders. Früher war es etwa wichtig, zu welchem Sportverein ich gehöre oder welches Auto ich fahre. Heute signalisieren die digitalen Tattoos Zugehörigkeit.

Digitale Tattoos?
Selbstbilder, die sich digital kommunizieren lassen. Essen eignet sich ganz hervorragend als digitales Tattoo.

Bevor gegessen wird, muss noch schnell ein Foto gepostet werden.
Bevor gegessen wird, muss noch schnell ein Foto gepostet werden.
bild: shutterstock

Der Schnappschuss von meinem perfekt arrangierten Teller ...
... oder die Facebook- oder Twittergruppe oder der Blog, in dem Veganismus oder Paleo-Diät inszeniert werden. Von all den Dingen, die das Ich ausmachen, hat Essen den grossen Charme, gut modellierbar zu sein. So kann ich mich selbst definieren, mich in einer bestimmten Haltung sehen und zeigen. Ich kann mich zugehörig fühlen, zugleich von anderen absetzen und damit Individualität generieren.

«Der individuelle Ernährungsstil wird gnadenlos überhöht.»

Was drückt sich beispielsweise in der Zugehörigkeit zu Vegetarismus oder Veganismus aus?
Da gibt es jede Menge positive Konnotationen. Selbstdisziplin, Engagement, Rücksichtnahme, Tierschutz, vielleicht auch Klimaschutz, Verantwortung, also etwas frech ausgedrückt: ein Besser-Menschentum. Darum ist es so attraktiv, sich dazu zu bekennen.

Und wer nicht mitmacht?
Da sind wir mitten in den Religionsdiskussionen des Mittelalters. Für die christlichen Missionare waren die Heiden die schlechteren Menschen. Die mussten bekehrt werden. Das erleben Leute, die heute noch Fleisch essen, teilweise auch. Der individuelle Ernährungsstil wird gnadenlos überhöht. Je mehr man das zum eigentlichen Sinn des Lebens macht, umso mehr idealisiert man es auch als Wert, das kann dann zur Quasireligion werden.

Wie erklären Sie sich eine solche Hysterie?
Vegetarismus oder Veganismus sind ja per se nicht schlecht, aber manche Anhänger suchen vor allem eine Ordnungsstruktur und finden sie in einem Essverhalten, das ihnen plötzlich Sinn und Halt gibt. Und wem die individuelle Entscheidung nicht reicht, der wird zum Missionar und verurteilt andere.

Eignet sich die intensive Beschäftigung mit dem eigenen Ernährungsstil, um dahinter eine Essstörung zu verstecken?
In der Fachwelt wird diskutiert, ob extreme selbstoptimierende Ernährungsarten in Einzelfällen eine Form von Essstörung annehmen können, im Sinne einer Orthorexia nervosa, der krankhaften Beschäftigung mit der richtigen Ernährung. Entscheidend ist der Grad der Beeinträchtigung. Wenn sich jemand zwanghaft den ganzen Tag mit der vermeintlich korrekten Ernährung beschäftigt und darüber den beruflichen Pflichten und sozialen Kontakten nicht mehr nachkommt, liegt tatsächlich die Diagnose einer Essstörung nahe.

Food

Ist die Individualisierung der Ernährungsstile ein Wohlstandsphänomen?
Es setzt eine gewisse materielle Ausstattung voraus, sich nach ethischen und politischen Überzeugungen zu ernähren. In unserer Gesellschaft geben wir mal gerade zwölf Prozent dessen, was wir finanziell zur Verfügung haben, für Essen aus. In anderen Weltregionen geht es erst mal um Nahrungskalorien, egal woher. Die können nix optimieren, die müssen sehen, dass sie ihr täglich Brot auf den Tisch bekommen.

Wir zeigen durch unser Essverhalten, zu welcher sozialen Schicht wir gehören?
Essen hatte immer auch mit Zugehörigkeit und Wohlstand zu tun. In den Überflussgesellschaften kann heute fast jeder fast alles auf den Tisch bringen. Da braucht es andere Massnahmen, um sich von der Masse abzugrenzen. Mit Selbstkasteiung kann man zum Beispiel zeigen, wie konsequent man isst – und ist.

Durch Selbstkasteiung zur Selbstverwirklichung?
Das ist nur eine Facette. Ausserdem – und das ist wirklich völlig anders als früher – muss das ja nicht heissen, rundum Verzicht zu üben. Wenn ich mich früher zum Veganismus bekannte, hiess das automatisch: Fahrrad fahren statt Auto, Bahn fahren statt fliegen, wenn man überhaupt reiste, gebrauchte statt neuer Kleidung kaufen. Heute zeigen Studien, dass der Verbraucher einen nie gekannten Wankelmut an den Tag legt.

Zum Beispiel?
Jemand trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift «I am vegan» und fährt einen riesigen Pick-up-Truck. Ich kenne einen Veganer, der flog einmal First Class nach Hawaii und zurück, nur um sich seinen Vielfliegerstatus zu sichern. Mit diesem Flug bläst er mehr CO² in die Luft, als ein durchschnittlicher Deutscher in einem ganzen Jahr produziert. An Bord bestellte er das vegane Menü. Das ist eine neue Individualität, die eine fundamentale Inkonsistenz im Verhalten erlaubt.

Eigentlich das Gegenteil von Authentizität.
Der Einzelne definiert, was seine Authentizität ausmacht.

Könnte daraus eine Gesellschaft aus kulinarischen Egomanen werden?
Nicht unbedingt. Es ist heute schon erkennbar, dass wir uns parallel danach sehnen, durch gemeinsames Essen mit anderen Bindungen zu stabilisieren. Essen stellt sozialen Kitt dar. Facebook kann oberflächlich Zusammengehörigkeit erzeugen, aber gemeinsames Essen schafft ein tragfähigeres soziales Netz. Erlebnisessen am Wochenende mit Freunden zu zelebrieren ist ein gemeinschafts- und sinnstiftendes Szenario.

Wohlfühlessen analog?
Genau, was ja nicht heisst, dass man die Bilder davon nicht auch postet. Und es gibt noch einen Trend, der in diese Richtung weist: Betriebsverpflegung. Unternehmen setzen das gemeinsame Essen zur Teambildung und Wertschätzung ein. Da geht es nicht mehr um die Kalorien, sondern um das sozial verbindende Element.

Jetzt auf

Und um die Gesunderhaltung der Belegschaft.
Natürlich. Bei Selbstoptimierung denken die meisten an körperliche Optimierung. Aber gemeint ist auch Leistung im Alltag und im Beruf. Schon heute wird das Essen daraufhin überprüft, ob ich dadurch produktiver werde, weniger schlafen muss und besser denken kann: eine Art Hirndoping durch optimierte Ernährung.

Wird ein individueller Ernährungsstil zum neuen Statussymbol?
Das zeichnet sich gerade ab. Selbstverständlich wird es auch in Zukunft Menschen geben, die einfach nur günstig satt werden wollen. Aber wenn Lebensmittel durch höhere Qualitätsanforderungen, faireren Handel, bessere Ressourcenschonung teurer werden, kann ein entsprechender Ernährungsstil für diejenigen, die es sich leisten können, zum neuen Distinktionsmerkmal werden.

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