Ich gebe zu, meine beiden Kinder reichen nicht, um meine Aussagen repräsentativ zu machen. Aber ich halte sie für zwei recht typische Exemplare ihrer Generation, jedes auf seine eigene Weise. Ich kommentiere hier drei Zahlen aus Studien aus sehr persönlicher Sicht. Und ich freue mich sehr, wenn ihr eure Erfahrungen teilt.
Diese Zahl stammt aus der aktuellen Helsana Emotionsstudie. Lustigerweise stelle ich bei meiner Tochter, gerade 18 geworden, diesbezüglich mit der Volljährigkeit eine Änderung fest. Seit sie selbst für ihre Absenzen an der Kanti geradestehen muss, geht sie viel gewissenhafter damit um. Früher hiess es öfter mal «Mami, ich hab die Mens, und es geht mir so schlecht, kann ich nicht zu Hause bleiben?» Und wenn Mami, weichherzig wie sie ist, einem die Absolution erteilt hat, macht man sich keine weiteren Gedanken darüber. Dass sie hier ein bisschen pflichtbewusster ist, ist ja durchaus in meinem Sinn. Aber vor einigen Wochen wollte sie sich mit 39 Grad Fieber in die Schule schleppen. Ich schickte sie umgehend zurück ins Bett und fragte, welcher Teufel sie da geritten habe. Ihre Antwort: «Ich habe Angst, dass man mir nicht glaubt, dass ich krank bin. Wenn ich selbst unterschreibe, kann ich ja machen, was ich will. Und ich will nicht, dass man denkt, ich schwänze. Oder ich sei immer krank.»
Ersteres ist grossartig, letzteres bedenklich. Was sagt das über unsere Gesellschaft aus, wenn schon Teenager das Gefühl haben, sie müssen sich krank in die Schule schleppen, weil sonst das Gefühl entsteht, man sei nicht leistungsfähig genug?
Eine Zahl aus der «Wie geht es dir?»-Kampagne von GFS Bern. Wahnsinnig schwierig einzuschätzen, weil unglaublich subjektiv. Was ich bei meiner Tochter wahrnehme: Der schulische Druck ist gigantisch. Sie ist eine gute Schülerin, aber keine, die ohne grossen Aufwand durch den Stoff spaziert. Ich erinnere mich nicht daran, je so viel für die Schule gelernt zu haben wie sie. Immer wieder mal gehe ich spätabends in ihr Zimmer und frage sie, warum sie nicht ein bisschen früher lerne. «Wann denn?», fragt sie. Sie hat recht.
Sie hat oft bis 17 Uhr Schule, ist kaum vor 18 Uhr zu Hause, das Lernen fällt also auf die Zeit nach dem Abendessen. Ich kann mir nicht vorstellen, wie andere da noch regelmässige Hobbys reinquetschen. Meine Tochter hat das Glück, dass sie ihr grösstes Hobby, die Musik, am musischen Gymnasium sozusagen zum Job gemacht hat, also im Stundenplan integriert. Sie hat noch eine Band, mit der sie regelmässig probt – und auch da ist öfter mal die Frage, ob sie sich die Bandprobe angesichts der Prüfungen, die anstehen, zeitlich überhaupt leisten kann oder will.
Das führt automatisch zu einem schlechten Gewissen – entweder den Bandkumpels gegenüber oder weil sie gesungen hat, statt zu lernen. Und ja, ich hab sie schon öfter weinend in ihrem Zimmer vorgefunden, weil sie dachte, sie habe nicht genug gelernt. Klar frage ich da manchmal, ob die Kanti das Richtige ist für sie. Aber sie sieht für sich keine Alternative.
Abgesehen davon, dass der Druck zum Beispiel bei der Lehrstellensuche nicht kleiner ist. Viele Betriebe vergeben ihre Lehrstellen bereits ein Jahr im Voraus, was de facto bedeutet, dass schon 14-Jährige eine Lehrstelle haben müssen. Kinder wie mein Sohn, die in diesem Alter noch keinen Plan haben, was sie eigentlich wollen, sind da schon mal einen Schritt hintendrein.
Und übrigens, als Notiz von der Seitenlinie: Ich habe den Konkurrenzkampf unter Eltern nie als so gross erlebt, wie zu jener Zeit. («Oh, er weiss noch nicht mal, was er will? Also mein Maximilian-Oliver-Tobias ging ja mit 11,5 Jahren einmal zum Schnuppern, und er war so gut, dass sie extra eine Lehrstelle für ihn geschaffen haben.» Oder so.)
Mein Sohn hat geschnuppert und geschnuppert und geschnuppert, und nichts hat richtig gepasst. Der Schulschluss kam näher, die meisten seiner Freunde hatten bereits eine Lehrstelle, er wusste noch nicht mal, was er wollte. Der Druck war riesig. Dazu kam die Nach-Corona-Zeit, viele Bewerbungen zum Schnuppern wurden abgelehnt. Da kann dir mit 15 deine Mutter lange erklären, das liege nicht an dir, sondern an den Umständen. Es ist trotzdem super frustrierend. Mein Sohn, mittlerweile 16, macht jetzt ein Berufseinstiegsjahr als Zwischenjahr, und die Lehrstellensuche hat bereits begonnen (er hat sich für Hotelfachmann entschieden).
Dass auch hier, fast ein Jahr im Voraus, schon so viele Absagen reinkommen, weil die Lehrstellen bereits besetzt sind, erhöht den Druck nochmal. Ich erlebe auch ihn oft der Verzweiflung nahe, weil er das Gefühl hat, es würde ihn nie jemand anstellen wollen. Dabei ist Oktober. Und wir reden von Lehrstellen nächsten August. Crazy!
Die Zahl stammt von der Uniklinik Basel, in anderen Kliniken sieht es ähnlich aus. Inwiefern dies mit der Pandemie zu tun hat, ist schwer zu sagen. Fakt ist, dass man heute vieles als psychische Krankheit anerkennt, das man früher nicht so wahrnahm. Da waren junge Leute halt öfter mal traurig und antriebslos, von Depression sprach man kaum. Im Umfeld meiner Tochter gibt es einige Teenager, die einen Klinikaufenthalt hinter sich haben. Die Gründe reichen von Essstörungen über Depressionen bis zu Suchtproblemen.
Meine Tochter lud sich schon als kleines Mädchen das Gewicht der ganzen Welt auf die eigenen Schultern. Sie leidet mit jedem ihrer Freundinnen und Freunde mit, hat ständig Angst, dass es irgendjemandem nicht gut geht. Diese Last gepaart mit dem schulischen Druck führte immer wieder mal zu Zusammenbrüchen. Aber inzwischen wissen sowohl sie als auch ich – unter anderem durch einen Besuch bei einem Jugendpsychologen – dass man sich immer wieder ins Bewusstsein rufen muss, dass solche Phasen temporär sind. Dass es Zeiten gibt, in denen es einem schlecht geht, und man sich nicht für diese schämen muss. Und dass danach wieder Zeiten kommen, in denen es einem gut geht.
Psychologinnen und Psychologen sagen, dass die Zeiten, in denen die Anzahl von depressiven Störungen steigen, meist grossem Wandel unterliegen. Dass Pandemie, Krieg, aber auch rasanter technischer Fortschritt bei jungen Menschen psychische Unstabilität zur Folge haben, ist nicht verwunderlich. Dass die Suizidrate aber so tief ist wie seit über vierzig Jahren nicht mehr, zeigt auch, dass die Jugend ihre Tiefen durchaus als das einschätzen kann, was sie sind: temporär.
Trotzdem habe ich das Gefühl, dass die Unbeschwertheit, mit der ich durch meine Jugend marschierte, bei meinen Kindern nicht vorhanden ist. Das ist nicht nur schlecht. Ich erlebe sie als sehr reflektiert und weltoffen, was ihnen dereinst sehr viele Türen öffnen wird. Und wenn man schon in jungen Jahren die Erfahrung macht, dass einem die Welt nicht immer nur zu Füssen liegt, hat das auch Vorteile. Wenn ich mir aber für meine Enkelkinder dereinst etwas wünschen könnte, wäre es etwas weniger Leistungsdruck in der Jugend. Der kommt nämlich noch früh genug.
Wie erlebt ihr die Jugend von heute? Ich freue mich über eure Erfahrungen und Meinungen in den Kommentarspalten.