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Als das Internet noch 529 Seiten dick war: Liebeserklärung an den Katalog

Als das Internet noch 529 Seiten dick war: Liebeserklärung an den Katalog

Der Veillon-Katalog. Ein Name, der förmlich nach französischer Eleganz schreit.Bild: KEYSTONE
Er war sowas wie das Internet vor dem Internet. Das Tor zur Welt. Zu Mode unter Palmen und frivolem Erwachsenenkram. Heute brauchen wir ihn nicht mehr. Eigentlich schade.
24.08.2017, 19:5927.08.2017, 08:49

Ich kam nach Hause, und mein Liebesleben sagte: «Der neue Ikea-Katalog ist da!» Ich schwöre, mein Herz machte einen Freudensprung. Nicht, dass der neue Ikea-Katalog, der vor wenigen Tagen in einem holländischen Maisfeld lanciert worden war (wieso? Werden Billy-Regale jetzt aus recycelten Maispflanzen gemacht?), besonders interessant wäre. Im Gegenteil, er wirkt genau so unaufgeräumt und unsexy wie immer.

Der Ikea-Katalog beschönigt nichts. Der Duftkerze «Sinnlig» sind ihre 1.50 Franken anzusehen.

Er ist erschreckend normal. So wie die vielen Behausungen, die mit seinem Inhalt gefüllt sind. Oft sogar mit identischen Dingen. Das blau-weiss-gestreifte Bettwäscheset Nyponros jedenfalls existiert – so man unserer Waschküche glauben kann – in unserem Haus in jeder einzelnen Wohnung auf jedem einzelnen Stockwerk.

Am 11. August 2017 stellt Ikea seinen aktuellen Katalog in diesem holländischen Maisfeld vor. God knows why.Bild: EPA ANP

Was mich direkt bezirzte, war also nicht der Inhalt. Es war die Form. Der Katalog. Dieses Ding, das heute so überflüssig ist wie das gedruckte Telefonbuch. In der vordigitalen Zeit allerdings, als wir uns noch Saurier als Haustiere hielten, da war der Katalog zwei Mal im Jahr, im Frühling und im Herbst, das berühmte Tor zur Welt. Zur Mode, zu Schmuck, zu Spiel- und Werkzeug. Seine Eintrittsportale hiessen «Spengler», «Ackermann», «Veillon» oder – vor Weihnachten – «Franz Carl Weber». 

Früher war die Ankunft eines Katalogs bei uns auf dem Land etwas ähnlich fest Herbeigesehntes wie die Sommerferien.

Tagelang blätterte ich mit meiner Mutter durch die Kataloge. Ziemlich biedere Kleider waren da vor ziemlich schöner Kulisse inszeniert. Oder waren die ewigen Palmen und Villenaufgänge etwa gar nicht echt, sondern reine Fototapeten?

Eine andere Katalog-Lancierungs-Aktion: 2004 geht Quelle dafür auf die Zugspitze. Weil Covergirl Claudia Schiffer Spitze ist?Bild: EPA

Kleiderkaufen war damals nicht gerade unser liebstes Hobby. In den umliegenden Dörfern gab es nur Schuhläden und in der nächst gelegenen Kleinstadt einen Benetton, der teure, kratzige Wollpullover verkaufte und quasi als Marke im Luxussegment galt, und einen jener Jeansläden, die heute Chicorée heissen. 

Und es gab 27 Kilometer weiter weg die riesengrosse Grossstadt Basel. Sie war grossartig. Als Teenager immer. Vorher eher nicht.

Zum Glück gab es in vielen Basler Läden ein Märchentelefon für die ungeduldigen kleinen Kleiderhasser. Also ein Telefon, vor das man sich hinsetzen konnte, und wenn man sich den Hörer ans Ohr hielt, erzählte Trudi Gerster ein schönes Märchen. Das half. Wenigstens ein bisschen. Die ganz grosse Hilfe war jedoch der Katalog.  

Ebenfalls 2004 machte ein französisches Versandhaus dieses aufwändige Katalog-Bikini-Shooting in Genf. Im Januar. Bild: KEYSTONE

Gut, das Resultat war kein anderes als heute bei Zalando: Die Post lieferte Dinge, die wir meist wieder zur Post brachten und zurück schickten. Aber der Weg dahin war schön: Die Kataloge liessen sich wie Bücher herumschleppen, ich entwickelte ein absolutes Vertrauen in Produktbeschreibungen («Diese hochwertige Viscose schmeichelt jeder Frau wie Seide und besticht durch äussersten Tragekomfort») und malte mir Sparmöglichkeiten aus.

Und: Es gab in fast jedem dieser Kataloge irgendwo zwischen den unverfänglichen Abteilungen «Herren» und «Haushalt» auch sowas wie die versteckte Erotik.

Da waren all die seltsam geformten «Massage»-Apparaturen für die entspannungsbedürftige Hausfrau. Oder Unterwäsche, die ausgerechnet da mit Stoff sparte, wo man ihn gebraucht hätte. Es war, jenseits der Seiten für Kinder und Jugendliche, eine schillernde, faszinierende Welt, in der man viel über Erwachsene und ihre Körper lernte.

Da modelte Barbara Becker mal für den Otto-Katalog. Mit Mode, die sie selbst designt hatte. Toll!Bild: EPA DPA OTTO

Und dann trennten wir die Bestelltalons von der hintersten Katalogseite, kritzelten in viel zu kleine Felder Nummern und Produktenamen und klammerten uns an das Versprechen «Lieferung innerhalb der nächsten drei Wochen». Je nach Produkt wurden aus diesen drei Wochen auch mal zwei Monate. In denen ich die Kataloge weiterhin hortete und studierte.

Meine Favoriten waren allerdings allerlei Broschüren für Uhren und Schmuck. Ich lernte dank ihnen viel über edle Steine und Metalle und ihre Preise.

Natürlich gibt es die Modekataloge heute noch. Sie werden allerdings kaum mehr genutzt, sie dienen den grossen Versandhäusern auch nur noch als viel zu teures, ökologisch unsinniges Werbematerial für ihre Online-Shops. So wie der Ikea-Katalog.

Aber früher, in einer ganz andern Zeit, als wir Zeitungen noch in Stein hämmerten, da waren die mindestens 529 Seiten fetten Teile tatsächlich sowas wie unser erster kleiner Blick in ein riesiges Universum namens Internet.

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Mode auf dem Autofriedhof: Maria Ke Fisherman an der Mercedes Benz Fashion Week in Madrid (18. September 2016).
quelle: epa/efe / ballesteros
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So funktioniert Kleider nähen im digitalen Zeitalter

Video: watson
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