Ich kam nach Hause, und mein Liebesleben sagte: «Der neue Ikea-Katalog ist da!» Ich schwöre, mein Herz machte einen Freudensprung. Nicht, dass der neue Ikea-Katalog, der vor wenigen Tagen in einem holländischen Maisfeld lanciert worden war (wieso? Werden Billy-Regale jetzt aus recycelten Maispflanzen gemacht?), besonders interessant wäre. Im Gegenteil, er wirkt genau so unaufgeräumt und unsexy wie immer.
Er ist erschreckend normal. So wie die vielen Behausungen, die mit seinem Inhalt gefüllt sind. Oft sogar mit identischen Dingen. Das blau-weiss-gestreifte Bettwäscheset Nyponros jedenfalls existiert – so man unserer Waschküche glauben kann – in unserem Haus in jeder einzelnen Wohnung auf jedem einzelnen Stockwerk.
Was mich direkt bezirzte, war also nicht der Inhalt. Es war die Form. Der Katalog. Dieses Ding, das heute so überflüssig ist wie das gedruckte Telefonbuch. In der vordigitalen Zeit allerdings, als wir uns noch Saurier als Haustiere hielten, da war der Katalog zwei Mal im Jahr, im Frühling und im Herbst, das berühmte Tor zur Welt. Zur Mode, zu Schmuck, zu Spiel- und Werkzeug. Seine Eintrittsportale hiessen «Spengler», «Ackermann», «Veillon» oder – vor Weihnachten – «Franz Carl Weber».
Tagelang blätterte ich mit meiner Mutter durch die Kataloge. Ziemlich biedere Kleider waren da vor ziemlich schöner Kulisse inszeniert. Oder waren die ewigen Palmen und Villenaufgänge etwa gar nicht echt, sondern reine Fototapeten?
Kleiderkaufen war damals nicht gerade unser liebstes Hobby. In den umliegenden Dörfern gab es nur Schuhläden und in der nächst gelegenen Kleinstadt einen Benetton, der teure, kratzige Wollpullover verkaufte und quasi als Marke im Luxussegment galt, und einen jener Jeansläden, die heute Chicorée heissen.
Zum Glück gab es in vielen Basler Läden ein Märchentelefon für die ungeduldigen kleinen Kleiderhasser. Also ein Telefon, vor das man sich hinsetzen konnte, und wenn man sich den Hörer ans Ohr hielt, erzählte Trudi Gerster ein schönes Märchen. Das half. Wenigstens ein bisschen. Die ganz grosse Hilfe war jedoch der Katalog.
Gut, das Resultat war kein anderes als heute bei Zalando: Die Post lieferte Dinge, die wir meist wieder zur Post brachten und zurück schickten. Aber der Weg dahin war schön: Die Kataloge liessen sich wie Bücher herumschleppen, ich entwickelte ein absolutes Vertrauen in Produktbeschreibungen («Diese hochwertige Viscose schmeichelt jeder Frau wie Seide und besticht durch äussersten Tragekomfort») und malte mir Sparmöglichkeiten aus.
Da waren all die seltsam geformten «Massage»-Apparaturen für die entspannungsbedürftige Hausfrau. Oder Unterwäsche, die ausgerechnet da mit Stoff sparte, wo man ihn gebraucht hätte. Es war, jenseits der Seiten für Kinder und Jugendliche, eine schillernde, faszinierende Welt, in der man viel über Erwachsene und ihre Körper lernte.
Und dann trennten wir die Bestelltalons von der hintersten Katalogseite, kritzelten in viel zu kleine Felder Nummern und Produktenamen und klammerten uns an das Versprechen «Lieferung innerhalb der nächsten drei Wochen». Je nach Produkt wurden aus diesen drei Wochen auch mal zwei Monate. In denen ich die Kataloge weiterhin hortete und studierte.
Natürlich gibt es die Modekataloge heute noch. Sie werden allerdings kaum mehr genutzt, sie dienen den grossen Versandhäusern auch nur noch als viel zu teures, ökologisch unsinniges Werbematerial für ihre Online-Shops. So wie der Ikea-Katalog.
Aber früher, in einer ganz andern Zeit, als wir Zeitungen noch in Stein hämmerten, da waren die mindestens 529 Seiten fetten Teile tatsächlich sowas wie unser erster kleiner Blick in ein riesiges Universum namens Internet.