«Endlich», war mein erster Gedanke, als ich die Amazon-Serie «Dietland» auf meinem Laptop öffnete, um in die Welt von Alicia Kettle – von ihrer Umwelt «Plum» genannt – einzutauchen.
Was beim ersten Drüberscrollen wie eine Serie über Paleo-Diäten daherkommt, ist in Wahrheit ein Pionierstück feministischer Serienliteratur basierend auf dem gleichnamigen und von «Fight Club» inspirierten Roman von Sarai Walker. Ein Befreiungsschlag für alle, die bei blutleeren Frauencharakteren und vorhersehbaren Dialogen nur noch müde den Kopf schütteln können, bevor sie sich einen Schokoriegel aus der Naschlade holen und auf das X oben im Browser klicken.
Wir haben Dietland einem ausführlichen Check unterzogen.
Als dicke Frau Ende Zwanzig beantwortet Plum Kettle Leserinnenbriefe, die an die selbstherrliche Chefredakteurin eines Lifestyle-Magazins gesendet werden. Um für ihre Fettabsaugung zu sparen. Als Ghostwriterin, sei dazugesagt.
Zur Motivation hat sich Plum ein kleines, rotes Kleid gekauft, das in ihrer Wohnung hängt. Bevor sie dort nicht reinpasst, denkt Plum gar nicht daran, ihre aus drei Strassen bestehende Komfortzone zu verlassen und fristet tagein, tagaus ein Dasein zwischen Selbsthass, Fressanfällen und Gemüse-Sticks ohne Dip.
Erst als die radikalfeministische Organisation «Jennifer» mit Männermorden und Kritik an der Modewelt auf sich aufmerksam macht, scheint Plum langsam aufzuwachen. Während sich die Mordfälle häufen, wird Plum von der gemässigten feministischen Untergrundgruppe «Calliope House» rekrutiert.
Zwei feministische Gruppierungen also, mit einem gemeinsamen Ziel: Die Diskriminierung von Frauen zu beenden und eine Gesellschaft zu schaffen, in der sie nicht unterdrückt werden. Während «Jennifer» Vergewaltiger jagt, Geständnisse erpresst und radikale Einschüchterunsversuche an echten Menschen erprobt, verpuffen die gemässigteren Methoden des «Calliope House» meist im Nichts.
Eine derart differenzierte Sicht des gar nicht so homogenen Feminismus in einer US-amerikanischen Serie wiederzufinden, grenzt an ein kleines Wunder.
Gut gefallen haben mir die Momente, in denen feministische Theorie auf dem Bildschirm in die Praxis umgesetzt wurde. Als Plum in einem Supermarkt belästigt wird, zum Beispiel, und sofort andere Frauen zur Hilfe springen.
Frauen, die den Täter ansprechen, der daraufhin den Laden verlässt.
Die Frauen im «Calliope-House» bieten Gesprächsrunden an und Ruhezimmer. «Jennifer» ist ein Auffangbecken für Traumatisierte. Der Gedanke, dass man gemeinsam stärker ist als alleine, trägt durch die Serie.
Chefredakteurin Kitty Montgomery verkörpert mit ihrem perfekten Aussehen und der Attitüde einer angriffslustigen Hyäne den Prototyp einer erfolgreichen Medienfrau, die über Kolleginnenleichen geht. Zu lange hat Kitty das falsche Spiel selbst mitgemacht, um ihren Posten jetzt ausgerechnet aufgrund einer feministischen Terrororganisation aufzugeben, die sie zwingt, ein Manifesto auf die Titelblätter zu drucken.
Schnell sieht Kitty, wie sie vom Engagement anderer profitieren kann: sei es von «Jennifer», oder von Plum.
Plum hingegen manövriert sich zum Ärger der Zuseherinnen mit jedem Besuch bei Kitty mehr in ihre Rolle der dankbaren, devoten Schreibanfängerin, deren geringes Selbstbewusstsein zu noch mehr Ausbeutung, noch weniger Respekt und noch weniger Lohn führt.
Ärgerlich, aber leider trotzdem zu oft die Realität.
Ob Plum, Kitty Montgomery, Schmink-Expterin oder «Jennifer»-Lead: die Schauspielleistung ist quer durch die Besetzung grossartig. Besonders Chefredakteurin Kitty, die zuerst als eindimensionale Profiteurin des Systems gezeichnet wird, die sich – komme was wolle – an die ausbeuterischen Regel hält, entwickelt sich im Laufe der Serie und zeigt so auf, wo «erfolgreiche Frauen» an die Grenzen ihrer Macht stossen – und was danach mit ihnen geschieht.
Auch Plums dunkle Monologe, die mit wiederkehrenden Comic-Elementen ergänzt werden, zeigen tabuisierte Aspekte der Body-Positivity-Bewegung auf. Immer wieder hält Plum ihren dünnen Schwestern den Spiegel vor: «Ja, du kannst leicht reden mit deiner Grösse 38!»
Plums hässliche, kontroverse Gedankengänge, die ausgesprochen und diskutiert werden, machen die Serie somit letztlich noch realer.
Nach «Dietland» wissen Männer, wie sich Frauen bei der Rezeption von Serien wie «Californication» oder «Two and a Half Men» fühlen: als zweitrangige Objekte. Lerneffekt? Vorhanden.
Als Plum anfängt, ihren Körper «zu akzeptieren», trägt sie fortan grüne Netzstrumpfhosen, dunkles Make-Up, auffällige Leo-Jacken (setzt man als aufgeklärte Feministin wirklich «ein Zeichen gegen die Modeindustrie», indem man brav weiterkonsumiert, nur eben in bunt, und danach aussieht wie jede andere Subkulturgängerin?) und schlägt sowohl verbal als auch physisch alles kurz und klein, was sich ihr in den Weg stellt.
Nicht nur Männer, die sich daneben benehmen (fair enough), sondern auch ihre Verbündeten im «Calliope-House». Die Zuseherin möchte gerne laut «STOP» schreien und sie in den Arm nehmen.
So befriedigend es auch sein mag, einen Mann anzuspucken, der einen beim genüsslichen Hot-Dog-Konsum als fett beschimpft – Plums Selbstermächtigungstrip wirkt an manchen Stellen schon fast kindlich-satirisch, und alles andere als empowerend oder erhaben.
Auch eine Szene aus dem «Calliope-House»: Der Trigger-Raum, in dem gerade konsumierte Pornos als Kunstprojekt live an die Wände projiziert werden und stellvertretend für die Vergewaltigungsphantasien aller Männer herhalten müssen. Pornodarstellerinnen gelten als Opfer, die trotz ihrer Schönheit beim Akt Würde und Selbstachtung verlieren.
Schwarz-weiss-Denken, hallo. Und deshalb ein kleiner, im Gesamtbild zu vernachlässigender Minuspunkt.
Obwohl «Dietland» wie
keine Serie zuvor den Zeitgeist rund um Debatten wie #MeToo aufgreift und im
Ermorden von gewalttätigen Männern einen möglichen Lösungsweg aufzeigt, ist es eben nicht mehr als das: ein möglicher, aber dennoch riskanter und strafbarer Lösungsweg,
der die Lager spaltet und Gegensätze in politisch prinzipiell ähnlichdenkenden Gruppierungen weiter
zementiert.