Aaaah, dieser Film! Er ist so schlecht! SO schlecht! Banal, klischiert, überall, wo das Zuschauen wirklich wehtun könnte, weichgespült und prüde – und die einzig coole Figur ist das todkranke Mädchen (Lily Collins). Es heisst Ellen, ist – nach Meinung seiner lesbischen Hippie-Mutter – künstlerisch begabt, was sich aus den paar Zeichnungen, die wir sehen, allerdings nicht erschliesst. Aber so genial begabt soll Ellen sein, dass sich ein anderes Mädchen das Leben nahm, nachdem es Ellens Magersuchts-Apokalypsen auf Tumblr zu lange studiert hatte. Ellen ist das ein bisschen peinlich.
Andererseits ist es auch ein bisschen cool. Wie alles, was mit Ellens Magersucht zu tun hat. Denn der Hunger macht ihren Geist sehr scharf. Ellen ist unterhaltsam, wenn mal wieder ihr «Kalorien-Asperger» einsetzt. Und dann, als sie nur noch zusammenbricht, kommt sie zu andern Essgestörten in eine therapeutische WG von einem gut aussehenden Doktor-Guru (Keanu Reeves), der mit seinen Patienten cool im Regen tanzt, weil sie sich dann so lebendig fühlen.
Die WG ist eh toll, alle sind dort gestörter und daher viel interessanter als der gesunde 0815-Mensch, da will man sofort hin. Ellen trifft dort auch auf einen angenehm durchgeknallten Balletttänzer, mit dem sie beim romantischen Dinner das Essen in Servietten kotzen kann. Und wenn ihr nicht gerade ein komischer Flaum auf den Armen wächst, weil ihr Körper nach einer neuen Art der Wärmespeicherung sucht, ist das alles ganz lustig. Ehrlich jetzt?
Der Film «To the Bone» gehört zusammen mit der Suizid-Serie «13 Reasons Why» zu dem «Je jünger die Menschen, desto grösser ihre Probleme»-Paket, mit dem Netflix gerade sehr erfolgreich ein neues Publikum zu erreichen versucht. «13 Reasons Why» ist eine Netflix-Eigenproduktion, deren Erfolg vorhersehbar war, «To the Bone» wurde von Netflix am Sundance-Festival 2017 für viel Geld eingekauft.
In der Serie wie auch im Film sehen wir jungen Frauen dabei zu, wie sie sich psychisch, aber vor allem physisch zugrunde richten. Schönen jungen Frauen, muss man dazu sagen. Was den angenehmen Grusel der Schaulust durchaus erhöht, schliesslich ist das Publikum nun einmal einfach leicht sadistisch veranlagt. Und mit grosser Sicherheit würde eine Erhebung ergeben, dass die Opfer von TV-Krimis öfter weiblich als männlich und öfter attraktiv als unattraktiv sind.
Aber egal. Es geht hier nicht um eine feministische Kritik. Es geht um das Chaos, das auch «To the Bone» seit seinem Erscheinen anrichtet. Schon «13 Reasons Why» beschäftigt ja noch immer Psychologen und Elternverbände, die sich darüber streiten, ob die Serie überhaupt gezeigt werden darf oder ob sie nicht eine Anleitung zum Suizid ist.
Jetzt, bei «To the Bone» äussern sich auch viele Betroffene. Und auch sie können sich nicht einigen. In der «Zeit» schreibt eine Magersuchts-Forscherin: «Ich kann nichts Banales an dem Film finden.» Gerade die heitere Normalität und Beiläufigkeit des ganzen Irrsinns seien so überzeugend.
Im «Guardian» prangert eine ehemals Magersüchtige alles und ganz besonders die Darstellung des Arztes und seiner Therapiemethoden an. Nirgendwo würde es so viel Missbrauch zwischen Ärzten und Patientinnen geben wie im Bereich der Magersucht, zudem sei die fiktive Therapie im Film ein reines Märchen.
Auf YouTube sagt eine Bloggerin, die seit zehn Jahren magersüchtig ist, ja, es sei so, Lily Collins sei seit Bekanntwerden des Films das neue Postergirl der Magersüchtigen-Community und viele Mädchen würden sich bei Ellen abschauen, wie man erfolgreich aus seinem Körper verschwindet. Sowas sei «unvermeidbar». Lily Collins, die wie die Regisseurin von «To the Bone» selbst lange unter Essstörungen litt, hat für ihre Rolle als Ellen ja noch einmal schmerzhaft viele Kilos verloren. Damit verkauft sich der Film. Ein eiskalt berechnender Fall von Method Acting als Marketing.
Alle Betroffenen betonen, wie wichtig der Film sei, um ins Gespräch zu kommen. Aber reden wir darüber nicht schon seit Jahren? Angesichts der beelendenden Hölle aller Anorexie-Blogs, skelettösen Tumblr-Accounts und Ballerinen auf Instagram? Wahrscheinlich nicht.
In den USA sind 30 Millionen Menschen viel zu dünn oder viel zu dick, zwei Drittel davon sind Frauen. Und von denen, die magersüchtig sind, sterben 10 bis 20 Prozent an der Krankheit. Mehr als bei jeder andern psychisch bedingten Störung. Wieso bloss dieses masslose Unglück mit unseren Körpern?
Wenn also die Diskussion um «To the Bone» mehr bewirken kann als bloss die Frage, ob man den Film verbieten soll oder nicht, dann ist das ein bisschen was. Zu einem guten Film macht ihn das trotzdem nicht. Oder wie ein Kritiker im «Guardian» erklärte: «Am Ende ist genau nichts Brauchbares oder Aufschlussreiches über Anorexie oder irgendwas anderes gesagt worden.» Und dass die ganze Streetcredibility des neuen Teenie-Magneten von Netflix auf der körperlichen Selbstausbeutung von Lily Collins beruht, das ist schon ziemlich ekelhaft.