«I'm so sorry!», ruft sie mir aus mehreren Metern Entfernung entgegen. Die Frau im Supermarkt ist zwar noch weit weg, entschuldigt sich aber enthusiastisch, da sich unsere Wege bald kreuzen und wir uns im Gang aneinander vorbeidrängen werden – typisch Ami eben. Und vielleicht nicht das, was man in einer Metropole wie New York erwarten würde. Aber die Höflichkeit der Menschen hier grenzt ans Absurde. Und sie ist so allgegenwärtig wie die Ratten in der Subway und die Kakerlaken in der Küche.
Gerade im Berufsleben musste ich mich als Schweizerin umgewöhnen. Die freundschaftliche Art und Weise, wie Amerikaner Mails schreiben, ist für unseren Geschmack fast anbiedernd.
Ich habe mir Smileys in Berufs-Mails schon lange abgewöhnt. Insbesondere dann, wenn ich die Person noch nie persönlich kennengelernt habe. Die Amerikaner handhaben Emoticons und höfliches Geplänkel zum Beginn und Abschluss einer Mail aber gänzlich anders.
Man könnte den Eindruck gewinnen, dass die Amerikaner mit ihrer Freundlichkeit fehlende Kompetenz wettmachen – und dies mag teilweise durchaus zutreffen. Oder aber, dass ihre Art eine Farce ist, da sie schrecklich unverbindlich sein können und oft «Ja» sagen, wenn sie eigentlich «Nein» meinen. Dies kann insbesondere dann mühsam sein, wenn man versucht, neue Freundschaften zu knüpfen.
Im Grunde genommen, mag ich ihre Art aber doch sehr gut, und seit ich von der Höflichkeitstheorie weiss, kann ich die kulturellen Unterschiede endlich aus einer weniger wertenden Perspektive betrachten.
Die Anthropologen Penelope Brown und Stephen Levinson haben 1987 das Buch «Politeness: Some universals of language use» veröffentlicht und damit einen Grundstein in Sachen Höflichkeitstheorie gelegt. Darin halten sie fest, dass es zwei grundlegende Arten von Höflichkeit gibt: die negative und die positive Höflichkeit. Grob gesagt, verfolgt die negative Höflichkeit das Ziel, andere nicht zu stören, während die positive Höflichkeit auf Inklusion und soziale Anerkennung abzielt.
Die negative Höflichkeit findet sich in älteren (und daher meist stabileren) Kulturen mit strengeren Hierarchien, beispielsweise in Grossbritannien oder der Schweiz, wieder. Die persönliche Privatsphäre hat hier einen sehr hohen Stellenwert und man ist darauf bedacht, andere nicht zu stören. Bei Gesprächen mit Unbekannten schlägt man einen formellen Ton an und kommuniziert eher indirekt.
Anders in Ländern, wo die positive Höflichkeit vorherrscht, wie beispielsweise in weiten Teilen der USA. Hier fühlt man sich im Gespräch mit einem Unbekannten schnell so, als würde man mit seinem besten Freund plaudern. In diesen Kulturkreisen steht das Individuum im Zentrum und zugleich kommt schnell ein Gefühl von Gemeinschaft und Solidarität auf. Diese Art der Höflichkeit ist oft in neueren Kulturen und dort anzutreffen, wo die Menschen geographisch viel Platz haben und daher weniger darauf achten müssen, ihre Mitmenschen nicht zu stören.
In New York, wo der Platz knapp bemessen ist, mischen sich die Formen. Das stete Entschuldigen findet man in vielen Grossstädten wieder (negative politeness). Die herzliche, offene Art hingegen, findet man in New York aber ebenso (positive politeness).
Das Gesichtskonzept führt weiter aus, worin die positive und die negative Höflichkeit gründen. So wird das öffentliche Selbst als «face» (Gesicht) bezeichnet, das es in der Gesellschaft zu wahren gilt. Beim negative face möchte der Mensch in erster Linie von anderen in Ruhe und Frieden gelassen werden. Beim positive face hingegen – und wenn positive Höflichkeit an den Tag gelegt wird – strebt man nach Anerkennung seiner Mitmenschen und nach einem Gefühl von Verbundenheit.
Dies erklärt auch, weshalb die Amerikaner so viele Komplimente machen: Sie wollen möglichst viele positive face Interaktionen haben. In der Schweiz mag es als oberflächlich oder unehrlich gelten, wenn ich der Unbekannten im Aufzug sage, wie toll ich ihre Schuhe finde. In Amerika hingegen ist dies gang und gäbe. Es geht bei dem Kompliment nicht darum, der Person zu sagen, dass man sie mag – geschweige denn geht man irgendeine «Verpflichtung» ein – sondern man stellt mit dem Kompliment eine positive Grundlage für die weitere Interaktion her.
Natürlich ist diese Theorie eine Verallgemeinerung und je nach Stadt, Mensch und Sitten unterscheidet sich die Mentalität noch in vielen anderen Aspekten. Müsste ich mich aber für eine Art der Höflichkeit entscheiden, ist der Fall für mich klar: Mehr Freundlichkeit hat noch nie geschadet. Und in dem Sinne, liebe User, wünsche ich euch noch einen wundervollen Tag und alles Gute weiterhin! Ob ihr das jetzt schleimig findet oder nicht, sei euch überlassen.