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Ich häkle, also bin ich – der Niedergang der Do-it-yourself-Bewegung

Ich häkle, also bin ich – der Niedergang der Do-it-yourself-Bewegung

collage: watson
«Do-it-Yourself» steht aktuell für chic, selbstgemacht, nachhaltig, raffiniert und ganz viel Pastellfarbe. Das war nicht immer so. Es folgt der Niedergang einer Gesellschaftskritik …
15.01.2018, 19:3416.01.2018, 07:50

«D.I.Y. or DIE.»

Mach's selbst oder geh' sterben. Angekratzt ist die schwarze Textilfarbe, die sich standhaft an der Jeansjacke festklammert, die gerade vor mir den Theaterraum der Roten Fabrik in Zürich betritt.

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Die Person, die zur abgeranzten Jeansjacke gehört, trägt abrasierte auf der einen und lange Haare auf der anderen Kopfseite. Ihre Hose ist rot-schwarz gestreift. Metallringe und Stäbe bohren sich durch die verschiedensten Stellen ihres Gesichts. Ich glotze vermutlich schon zu lange, als es sich gehört. 

Aber die Szenerie stimmt mich nostalgisch. Und gleichzeitig bin ich irritiert. DIY – dieser purpurfarbene, Gute-Laune-Slogan – gehört für mich eigentlich zu Tante Pia und zu Kühlschrankmagneten aus Bierdeckeln. Nicht zu androgynen Punk-Wesen mit Schwermetall zwischen den Nasenlöchern.

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bild: paperblog

D.I.Y. ist ein Luxussymptom

Do-it-yourself – das heisst für mich Pastellfarbe und Lampen aus alten Pet-Flaschen. Do-it-yourself schreit es mir entgegen, wenn mich meine Schwestern in der Stadt besuche und wir – wie schon beim letzten und vorletzten Mal – in «Frau Gerolds Garten» teures Bier aus einer Mikrobrauerei trinken. Wir bezahlen den Preis für den nachhaltig produzierten Hopfensaft trotzdem immer gerne, weil sich meine Schwestern dort an den raffinierten Einsätzen von Europaletten erfreuen und es echt cool findet, wie der Koriander und die Petersilie auf dem ehemaligen Fabrikgelände in leeren Benzinkanistern blühen.

Do-it-yourself ist chic und hip. Ja, auch ein bisschen nostalgisch und schludrig, aber unbedingt süss und lebensbejahend. Auf keinen Fall krustig. Wie etwa eine Jeansjacke mit Todesdrohung drauf. Dachte ich bis anhin. 

Illustration aus einem Punk-Magazin.
Illustration aus einem Punk-Magazin.via wrathozombie

Doch in Tat und Wahrheit kommt die Do-it-yourself-Bewegung aus genau der Ecke, die Zuschreibungen wie «süss» und «heimelig» mit einem «Mittelfinger hoch!» quittieren würde. Die Selbstmachkultur war in ihrem Ursprung nämlich ein gesellschaftskritischer Lifestyle, mit dem Öko-Hippies und linke Punks zwischen den späten 60ern und den frühen 90ern dem Konsumwahnsinn absagen wollten.

Und das ist ja irgendwie schon auch witzig. Gerade in der Zeit, in der üppige Kühlschränke zum Statussymbol wurden, in der Massenkonsum zum ersten Mal einen Wohlstand für alle versprach und eine futuristische Technologiegläubigkeit wie ein Schleier über der westlichen Kultur hing, kamen Leute auf den Gedanken, ihre Ware doch lieber wieder selbst herzustellen.

Der üppige Kühlschrank als Symbol früher Massenkonsumkultur. 
Der üppige Kühlschrank als Symbol früher Massenkonsumkultur. bild: flickr

Und zwar nicht aus dem Grund einer Notwendigkeit. Sondern dank des grossmehrheitlichen Luxus', sich die Frage stellen zu dürfen: «Was will ich eigentlich wie konsumieren?»

Verloren in ihrer «No Future»-Attitüde nahmen jugendliche Subkulturen in den 80ern genau diese Frage auf und fanden eine hoffnungstragende, wenn auch sehr eskapistische, Antwort auf sie: «Scheiss auf No Future! Scheiss auf die herrschende Klasse! Mach's selbst!». Etwas rigider und in Englisch formuliert landen wir so wieder bei der Jeansjacke in der roten Fabrik:

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bild: gd blogs

Im Zuge dieser Parole hatte Punk wieder eine politische Vision und ein Argument, um sich vom Rest der Gesellschaft abzugrenzen. Dieses Statement war aber nicht zuletzt  auch der Grundstein vieler kommerzieller Konsumgüter, die wir heute fast schon selbstverständlich ab Stange kaufen, beziehungsweise nutzen.

Beispiele dafür sind etwa gerade modische Jeansjacken mit bunten Stickern drauf; genauso aber auch Techno-Musik oder Open-Source-Computer-Programme wie «Linux», «Open Office» oder die «Wikipedia».

Romantik als einfachere Kritik

Die Gesellschaftsjournalistin und Buchautorin Susanne Klingner sieht im Phänomen der Selbstmachbewegung nicht nur eine subversive Gesellschaftskritik. Sie sieht in ihr auch eine Reaktion auf die Überforderung mit der Massenkonsumkultur in Form einer romantischen Rückbesinnung. 

Ich häkle, also bin ich. 

Zum einen, so Klinger, fehle es denn meisten Menschen in der heutigen Zeit an einem sinnlichen Schaffungsprozess. So viele Menschen sässen Tag ein, Tag aus hinter einem Bildschirm und würden irgendwelche Exceltabellen abtippen, sodass sie am Abend gar nicht so genau wüssten, was sie den ganzen Tag geschaffen haben. DIY sei in diesem Fall ein Selbstverwirklichungsakt. Und nichts anderes. 

Denn Socken zu stricken und Brot zu backen sind ja keine neuen Erfindungen. Früher waren sie alltägliche Notwendigkeiten zur Bewerkstelligung des Lebens. Heute sind sie eben hip.

Massenkonsum fühle sich für viele Menschen wie eine Spirale an, aus der sie ausbrechen wollen, sagt Susanne Klingner.
Massenkonsum fühle sich für viele Menschen wie eine Spirale an, aus der sie ausbrechen wollen, sagt Susanne Klingner.bild: polyp.org

Ein anderes Motiv für die momentane Konjunktur von DIY-Projekten sei dasselbe Gefühl, das junge Punks vor fast vier Dekaden schon verspürt haben: der kapitalistische Wahnsinn des Massenkonsums.

Hippies und junge Weltverbesserer störten sich an den üppigen Kühlschränken, die man mit wasauchimmer von woherauchimmer vollstopfen konnte. Der bewusste Mensch von heute tut dasselbe. Gerade beim Shopping verdichtet sich diese Perversion ad absurdum.

«Je grösser der Kapitalismus, desto grösser die Selbermachbewegung.»
Susanne Klingner, Autorin von «Hab ich selbst gemacht»

Wer sich der unangenehmen Frage stellt, wieso das Shirt aus dem Primemark nur vier-neunzig kostet, merke schnell, sagt Klinger, dass selber machen, nebst anderen Vorteilen, die fairste Variante des Konsums darstellt. Die Transportwege sind kurz, die Produktion transparent, der Wert ist persönlich und deshalb nachhaltig; schliesslich könne man sich bei DIY nur selbst ausbeuten.

Screenshot der Google-Bildersuche beim Begriff «DIY».screenshot: watson

Internet, du Spassverderber!

Der DIY-Hype ist also real und aktuell. Natürlich kann man darin eine romantische Resignationsstrategie sehen. Und ganz gewiss kann man all die DIY-Blogs und YouTube-Tutorial als kollektive Lernräume betrachten. Aber so schön ist es dann eben doch nicht immer.

Denn was unter dem Label der drei Buchstaben so über unsere Facebook-Feeds läuft, ist nur selten eine Alternative zu dreckig produzierter Konsumware, sondern viel mehr eine Multiplikation all der «Kauf mich! Du brauchst mich! Und Click mich!»-Parolen, die sich schlussendlich genauso in den Kanon des Massenkonsums miteinreihen.

Beispiele gefälligst?

Brauchen wir alle. Super praktisch. Seit der Fidegt-Spinner kaputt ist.

Aber noch viel essentieller für unser aller Überleben ist 

… magischer Glitzer-DIY-Unicorn-Schleim!

30,3 Millionen Views by the way. Video: YouTube/Gillian Bower

Ich sage bloss: Must have! Und dann wären da noch all die tollen Dinge, die man mit einer Kola SELBST machen kann. Genial!

Bestimmt keine Werbung. NEIN, das ist DIY, Baby. Video: YouTube/VitaliUS EN

DIY ist romantisch. Das stimmt. Ja, sogar dem Herstellungsprozess von glitzrigem Einhornschleim kann ich einen gewissen Hauch von Romantik nicht absprechen. Ich wage aber zu bezweifeln, dass das Bedürfnis ein Bild seines selbstgemachten Palettensofas auf Instagram zu stellen und mit #diy zu vertaggen nicht mehr viel subversive Gesellschaftskritik in sich trägt. Viel mehr begünstigt es eben genau das System, welches es kritisiert. Die dreiteilige Buchstabenfolge wird zum Marketing-Vehikel konsumistischen Nonsenses. 

Und was zuletzt stirbt …

… ist dann nicht der pastellfarbene Glitzer-Einhorn-Schleim und auch nicht das seichte Gefühl kreativ zu sein, wenn man eine Magnetmünze mit der Heissleimpistole an einen siffigen Bierdeckel klebt. Krepieren tut am Schluss bloss der kritische Verstand einer neuzeitlichen Gesellschaft. Und Tante Pia ist glücklich.

In dem Sinne:

D.I.Y AND DIE!

Und weil wir gerade so romantisch sind: Bilder vom Hippie-Trail in den 1970er-Jahren!

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Hippie-Trail in den 1970er-Jahren
Weihnachten in Goa, 1978. quelle: flickr
quelle: flickr
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Und welche Absurditäten so bei den #Hashtags trenden:

watson-Redakteure versuche sich an DIY-Projekten:

Video: watson
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7 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Amadeus
15.01.2018 20:11registriert September 2015
Super geschrieben und sehr interessant. Danke!
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Dario4Play
15.01.2018 20:14registriert Dezember 2014
Meine Berufsbezeichnung ist:
Detailhandelsfachmann (Do+it Yourself) du bist also nicht ganz allein 😁
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