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Am 19. August 1991 bahnte sich in Moskau ein Blutbad an. Der starke Mann der UdSSR, Michail Gorbatschow, war auf mysteriöse Weise verschwunden. Panzer mit Soldaten fuhren in der Stadt auf, die Bevölkerung strömte zu hunderttausenden auf die Strasse, um sie aufzuhalten. Drei Tage später war der Spuk vorbei. Die Soldaten zogen ab, praktisch ohne einen Schuss abgefeuert zu haben. Wenig später krachte die einstige Supermacht Sowjetunion wie ein Kartenhaus zusammen.
Bis heute ist dieser Vorgang ein Rätsel geblieben. Wie war es möglich, dass eines der ruchlosesten Regime des 20. Jahrhunderts praktisch ohne Gegenwehr die Bühne räumte?
Die Erklärung liefert Charles Clover in seinem soeben erschienen (und extrem lesenswerten) Buch «Black Wind White Snow».
Clover war lange Moskau-Korrespondent der «Financial Times» und kennt die Akteure dieser Zeit teils persönlich. Seine Antwort auf die Implosion der UdSSR lautet wie folgt:
Mit anderen Worten: Der Kommunismus sowjetischer Prägung war derart hohl und inhaltslos geworden, dass er sich nur noch mit viel Zynismus und Wodka ertragen liess. Als die Soldaten erkannten, dass sie keine Ahnung hatten, wogegen sie überhaupt kämpfen sollten, zogen sie ganz einfach wieder ab.
Das Regime von Wladimir Putin hat diese Lektion begriffen. Es hat das ideologische Vakuum wieder gefüllt, und zwar mit einer Doktrin namens Eurasianismus. Wie diese Sicht der Welt entstanden ist und was sie bedeutet, ist im Westen noch weitgehend unbekannt. Eine gefährliche Wissenslücke, denn wie Clover schreibt: «Wenn man das jüngste Verhalten Russlands durch die Brille des Eurasianismus betrachtet, dann wird klar und verständlich, welche Kämpfe der Kreml ausgewählt hat und welche nicht, und wie er diese Kämpfe ausgetragen hat.»
Die Ursprünge des Eurasianismus reichen rund hundert Jahre zurück. Nikolay Trubetskoy, ein junger Linguist und Aristokrat, war in letzter Sekunde seinen bolschewistischen Verfolgern entkommen. Zusammen mit seinem Freund Roman Jakobson entwickelte er im Exil eine revolutionäre linguistische Theorie. Sprache, so postulierten die beiden, werde nicht durch die Geschichte beeinflusst, sondern folge einer eigenen, inneren Logik.
Wie die Natur so hat auch die Sprache und damit auch die Kultur eine Art DNA. Einzelne Sprachen und Kulturen können sich jedoch vermischen und so eine grössere Einheit bilden. Eine solche Einheit glaubten Trubetskoy und Jakobson in der «Eurasischen Sprachunion» gefunden zu haben. Eurasien war für sie ein «gigantisches Becken, in dem ein System von miteinander verbundenen Sprachen zusammenfloss und mit der Zeit eine gemeinsame Struktur bildet».
Diese gemeinsame Struktur der eurasischen Sprachen erhielt in den Händen von Trubetskoy und Jakobson eine metaphysische Qualität:
Eurasien, mit anderen Worten, ist gemäss dieser These mehr als ein geografischer Raum, es ist auch eine Kultur, die einer natürlichen, unbewussten, inneren Logik folgt. Diesen Ansatz nahm in den 30er Jahren ein Historiker namens Lev Gumilev auf. Lev Gumilev ist eine Figur, wie man sie wahrscheinlich nur in Russland antreffen kann. Sein Vater Nikolay war Dichter und wurde von den Bolschewisten erschossen.
Seine Mutter Anna Akhmatova, war ebenfalls Dichterin und zwar bis heute eine der bedeutendsten in Russland. Sie führte das Leben einer Bohème, ein Lebensstil, dem bald auch ihr Sohn frönte. Das brachte ihm zuerst Ärger mit dem stalinistischen Geheimdienst und danach zehn Jahre in einem Gulag in Sibirien ein.
Gumilev krepierte zwar beinahe in Sibirien, doch er kehrte schliesslich mit einer Erkenntnis zurück, die Clover wie folgt zusammenfasst:
Diese Erkenntnis fasste Gumilev im Begriff «Passionarost» zusammen, ein Ausdruck, der sich kaum übersetzen lässt, der aber ungefähr bedeutet: Die Fähigkeit eines Einzelnen, sich zugunsten eines grösseren Ideals zu opfern und so den Lauf der Geschichte zu verändern.
Gumilev selbst ist das beste Beispiel für Passionarost. Obwohl ihn das stalinistische Regime gleich zweimal in einen Gulag steckte – vor dem Krieg in Sibirien, nach dem Krieg in Kasachstan – versank er in eine tiefe Depression, als die UdSSR auseinanderbrach.
Diese extreme Form des Stockholm-Syndroms – das Phänomen, sich mit seinen Peinigern zu solidarisieren – ist in Russland weit verbreitet. Die Schriftstellerin Swetlana Alexejewitsch, Nobelpreisträgerin für Literatur im Jahr 2015, schildert dies eindrücklich in ihrem Buch «Secondhand-Zeit». In hunderten von Interviews zeigt sie auf, dass viele Russen trotz schrecklichsten Erfahrungen mit dem stalinistischen Regime, ihre Verbundenheit zu Russland nie abgelegt haben. Josef Stalin selbst, das nur nebenbei, ist heute noch der mit Abstand populärste Alt-Politiker. Rund die Hälfte aller Russen bezeichnen ihn als den grössten Staatsmann.
Zwischen seinen beiden Gulag-Aufenthalten diente Gumilev in der roten Armee und war beim Einmarsch in Deutschland dabei. Auch dieses Erlebnis hinterliess bei ihm einen tiefen Eindruck. Mit eigenen Augen sah er, dass Deutschland zwar technisch viel weiter entwickelt war als sein Heimatland. Trotzdem hatte Hitler den Krieg gegen Stalin verloren.
«Kultur ist nicht die Summe von Autos, Häusern und Wassertoiletten», fasste Gumilev diese Erfahrung zusammen. «(...) Kultur entsteht, wenn Menschen starke und noble Gefühle entwickeln – Freundschaft, Vertrauen, gemeinsames Leiden, Patriotismus und Respekt für die andern.»
Diese Eigenschaften glaubte Gumilev bei den Steppenvölkern von Eurasien entdeckt zu haben. Er begann ihre Geschichte zu erforschen und mythisch zu verklären. Gleichzeitig erklärte er sie zu den wahren Vorfahren der Russen:
Gumilevs Thesen sind mehr Mythen denn Wissenschaft. Trotzdem wurde er nach dem Zerfall der UdSSR noch im hohen Alter als Professor für Geschichte an die Universität von St.Petersburg berufen. Er wurde ein erbitterter Gegner der liberalen Reformer und eine Ikone der neuen Nationalisten und der alten Kommunisten. Im Juni 1992 starb er und wurde ehrenvoll auf einem Friedhof in St.Petersburg begraben.
Die beiden Linguisten Trubetskoy und Jakobson hatten aufgezeigt, dass die Steppenvölker Eurasiens eine Kultur hatten, die ihre eigene, innere Logik hat. Der Historiker Gumilev wiederum hatte die Passionarost in diesen Kulturen entdeckt, die übermenschliche Leidensbereitschaft im Dienste eines Ganzen. An Alexander Dugin sollte es nun liegen, diese Dinge zu einer Theorie der Geopolitik zusammenzuführen.
Alexander Dugin ist ein ähnlicher Typ wie Gumilev – nur noch viel extremer. Da er jedoch in der relativ gemässigten Breschnew-Ära aufwuchs und sein Vater wahrscheinlich ein hoher KGB-Offizier war, landete er nicht im Gulag, sondern in der Bohème-Szene. Als junger Mann war er gleichzeitig Künstler, Alkoholiker, Anti-Semit, Philosoph, Okkultist und Faschist und verkehrte in Kreisen, in denen Hitler und die SS verehrt und französische Philosophen gelesen wurden.
Im Gegensatz zu Gumilev konnte Dugin die UdSSR verlassen. Gegen Ende der 80er Jahre traf er in Paris Alain de Benoist, den führenden Intellektuellen der neuen Rechten. Dieser vertritt die These, wonach der moderne Faschismus die Grenzen des Nationalstaates sprengen und sich einen grösseren Raum suchen muss. Eurasien war ein solcher Raum, Dugin hatte sein Thema gefunden.
1997 veröffentlichte Dugin sein wohl wichtigstes Werk, «The Foundation of Geopolitics», «eines der seltsamsten, beeindruckendsten und angsteinflössendsten Bücher der Postsowjet-Ära», wie es Clover bezeichnet. Mit diesem Buch verliess Dugin die Bohème-Szene und wurde immer mehr Teil des Establishments der Hardliner.
In «The Foundations of Geopolitics» entwickelt Dugin die These, wonach die Welt von zwei Supermächten beherrscht wird, aber nicht wie im Kalten Krieg von einer kapitalistischen und einer kommunistischen, sondern von einer See- und einer Landmacht. Die USA und Grossbritannien bilden den Kern der Seemacht. Für die Landmacht Russland hat Dugin einen simplen Plan: Die Sowjetunion soll wieder hergestellt werden, sich dann mit Deutschland und Japan verbünden und so ein Gegengewicht zu den verhassten Angelsachsen bilden.
Mit Bezug auf Alain de Benoist stellt Dugin fest: «Hitlers grösster Fehler war es, dass er Europa deutsch machen wollte.» Dugin will mit seiner Vorstellung von Eurasianismus diese Fehler nicht wiederholen:
Um dieses Ziel zu erreichen, muss es gelingen, Deutschland aus dem Verbund des Westens herauszubrechen und als neuer Partner Russlands zu gewinnen. «Deutschland ist heute ein wirtschaftlicher Riese und ein politischer Zwerg», stellt Dugin fest. «Russland ist genau das Gegenteil – ein politischer Riese und ein wirtschaftlicher Krüppel. Eine Achse ‹Moskau-Berlin› würde die Schwächen beider beheben und die Grundlage für ein prosperierendes Gross-Russland und Gross-Deutschland legen.»
Für unsere Ohren mag dies absurd klingen, und es ist auch absurd, führt man sich vor Augen, was Russen und Deutsche sich in den vergangenen hundert Jahren gegenseitig angetan haben. Nicht so in Moskau, dort hätte Dugins Timing nicht besser sein können. Kurz nach der Veröffentlichung der «Foundations» geriet Russland in den Strudel der asiatischen Krise und erlebte eine Hyperinflation, die das Wenige, was der Mittelstand noch besessen hatte, vernichtete. Der Liberalismus war damit endgültig erledigt.
Für die neuen Machthaber um Putin kamen Dugins Thesen sehr gelegen. Armee und Geheimdienst hatten sich eh nie damit anfreunden können, dass die USA nun plötzlich nicht mehr Feind, sondern Partner sein soll. Kommt dazu, dass sich die Amerikaner im Umgang mit Russland – milde ausgedrückt – ungeschickt verhielten. Dank Dugin hatten die Hardliner nun beides: Ein neues Feindbild und eine Antwort auf die Frage «Warum?».
Eurasianismus ist heute die vorherrschende Weltanschauung, ob aus zynischem Kalkül oder Überzeugung, ist schwer zu beurteilen und letztlich auch zweitrangig. Die russischen Staatsmedien verbreiten tagtäglich die Botschaft: Russland ist die Bastion, die Europa vor Flüchtlingen, Terroristen, Homosexuellen und der angelsächsischen Dekadenz bewahren wird.
Am 29. Mai 2014 hat Putin auch die Eurasische Wirtschaftsunion ausgerufen. Ihr gehören nebst Russland Kasachstan, Weissrussland, Armenien und Kirgistan an. Auch die Ukraine hätte ursprünglich in diese Union gelockt werden sollen, und der Krieg in Georgien wurde ebenfalls im Namen des Eurasianismus geführt. Dugin war übrigens bei beiden Kriegsschauplätzen vor Ort.
Dugins Thesen sind heute auch auf allen russischen Propagandamedien vertreten. Ob «Russia Today» oder «Anonymous», ob «Ken FM» oder dem Magazin «Compact», überall beschwören Alt-Stalinisten und Neo-Faschisten eine neue russisch-deutsche Verbrüderung. Auch der selbst ernannte Schweizer Friedensforscher Daniele Ganser jodelt dieses Thema in allen nur denkbaren Variationen rauf und runter.
2009 hat Dugin nachgelegt und das Buch «The Fourth Political Theory» veröffentlicht. Er hat darin alle Denker des Faschismus zusammengefasst, Carl Schmitt, Martin Heidegger und Karl Haushofer und rechnet mit dem Liberalismus ab. Das Buch ist in Ultrarechts-Kreisen Kult geworden.
Vielleicht sollten wir beginnen, Alexander Dugin Ernst zu nehmen.
(Gestaltung: Anna Rothenfluh)