Etwas in mir sträubt sich gegen Amerika. Also die USA, meine ich. Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten oder sollten wir sagen der unbeschränkten Komplimente-Heuchlerei?
Ich bin – wie die meisten, die auf diesen Link hier geklickt haben – in einem Land sozialisiert worden, in dem das spontane Fallenlassen eines Satzes wie «Schicke Jacke» als ernsthafte Bedrohung wahrgenommen wird. Und man ein Creep ist, wenn man jemanden fragt, wie sie oder er diesen abgefahrenen tollen Lidstrich hingekriegt hat.
In den USA ist das anders. Ganz anders. Da ist das normal. Da schmettert man mit Wörter wie lovely, sweetie, cutie, adore, deep, touch und anderen Herzlichkeiten in einer Kadenz umher, die man hierzulande so nur von anthroposophischen Lernbegleiterinnen kennt. Und die gelten in den meisten Fällen ja ebenfalls als Creeps.
Nach einem stereotypen helvetischen Weltverständnis sind deshalb also alle Amerikanerinnen und Amerikaner heimliche Rudolph-Steiner-Schösslinge und deshalb eben ein bisschen verklärt – oder um beim Wort zu bleiben: Creeps. Aber wieso eigentlich? Nur weil sie lieb zu einander sind?
Gerhard Roth, Neurowissenschaftler und Philosophe, glaubt, dass wir uns für Komplimente schämen. Und zwar nicht für das Komplimente-Bekommen, sondern für das Komplimente-Erteilen. Er sagt: «Wir haben Angst übertrieben und unehrlich zu wirken.»
Handkehrum ist Roth aber sicher, dass Komplimente essentiell für uns sind. Sie seien das Schmiermittel unserer Gesellschaft und wirken, wie eine Droge auf uns. Denn unsere Körper schütten beim Erhalt von Komplimenten Belohnungsstoffe, sogenannte Opioide aus. Die lassen uns gut fühlen und steigern das Selbstwertgefühl.
Doch trotz Drogenrauschähnlichkeit traut der Schweizer Fübü den amerikanisch anmutenden oh-so-fucking-awesome-Liebeleien oft kaum über den Weg. Geschweige denn erdreistet man sich einen solch pathetischen Stuss selbst herauszustöhnen.
Eine Form des oberflächlichen Lobens haben wir uns hierzulande aber doch angeeignet: den Like.
Er ist die subtile, uniformierte Form Komplimente auszutauschen ohne der Gefahr zu erliegen, wegen einer lieb gemeinten Sache in eine peinliche Situation zu geraten. Denn ein gutes Kompliment zu formulieren, ist wie Karaoke. Das Gelingen ist stark von den Umständen abhängig.
Ein falsches Wort zum ungünstigen Zeitpunkt, noch gepaart von einem gerade etwas zu schiefen Blick – und schon landet das, was einmal als Kompliment gedacht war auf dem Sperrmüll für gut gemeinte, aber inkompetent formulierte Freundlichkeit. Wie eine Sing-Along-Einlange bei mangelndem Alkoholpegel und nicht vorhandenem Nostalgiefaktor. Peinlich eben.
Sogar in der Privatwirtschaft befasst man sich mit der Wichtigkeit von Komplimenten. Die internationale Studie «Motivating People, Getting Beyond Money» der Unternehmensberatung McKinsey verrät, dass besonders nicht-finanzielle Anreize wichtig sind, um Wertschätzung auszudrücken und um Angestellte zu motivieren.
Im Rahmen jener Studie wurden rund 1000 Managerinnen und Mitarbeiter befragt, die grosso modo alle bestätigten, dass Anerkennung und Lob genauso wichtig, wenn nicht sogar wichtiger ist, wie finanzielle Anreize und Gehaltserhöhungen. 67 Prozent der Befragten gaben zudem an, dass sich das Lob ihrer direkten Vorgesetzten «sehr effektiv» bis «extrem effektiv» auf ihre Motivation auswirkt.
Es ist also wichtig zu Loben. Klar ist aber auch, dass wenn ein Lob in einer Hierarchie, also von oben nach unten ausgesprochen wird, es automatisch einen anerkennenden Charakter erhält.
Aber das ist ja irgendwie noch kein Kompliment. Also keines von denen, die uns eben so gut tun sollen. Denn im Grunde bedeutet ein Lob wie das obige nichts weiter als: «Toll, die Arbeit ist erledigt, wie sie es sein soll. Es gibt keine weiteren Probleme.» Ein Kompliment hingegen, ein gutes Kompliment, sagt der Wissenschaftler Gerhard Roth, ist ein weiterentwickeltes Lob. Ein Lob, das Anerkennung ausspricht, reflektiert ist und individuell auf eine Person zugeschnitten ist. Ein Kompliment sollte also keine Floskel sein. Kein entpersonalisierter Like, sondern ein Wortgeschenk. Keine Gutscheine fürs Lebensmittelgeschäft, sondern eine Einladung ins Theaterstück des Lieblingsautoren.
Und es geht noch weiter mit der Rezeptur zum perfekten Kompliment. Soll man jemanden wegen seiner schönen Wangenknochen, wegen ihrer wohlgeformten Knie oder der symmetrischen Zahnstellung rühmen? Eigentlich nicht.
Wahllose Komplimente für Dinge, die man selber nicht gross beeinflussen kann, sind nicht die Art von Komplimente für die hier plädiert wird. Es geht um freundliche Ehrlichkeit und radikale Offenheit, die einer Person Anerkennung schenken, die sie sich selbst vielleicht nicht gibt. Nicht geben kann. Und die sollten am besten mit der unverfrorenen Spontanität eines US-Amerikaners und der zurückhaltenden Abgeklärtheit einer Europäerin daher kommen. Dann ist man nämlich auch kein Creep, sondern einfach ein wohlwollender Mensch.