Diese Geschichte beginnt wie jede Tinder-Geschichte mit einem Match. Dabei weiss ich von Anfang an nicht genau, warum ich Kai nach rechts wische. Mein Typ ist er nicht. Seine Bilder sprechen mich auch nicht an. Aber seine Bio finde ich lustig. Da steht nämlich nur, dass er Tomaten liebt.
Ein paar Tage später: «Kai sent you a message» steht auf meinem Display. «Eine Frohnatur aus der Stadt. Hallo, die Dame!» Nach all den zig «Hi»-, «Hi, wie gehts?»- und «Hallo Emma»-Openern, die ich mir normalerweise gewöhnt bin, halte ich Kais Parolen für Perlen.
Per Chat bauen sich Kai und ich innert kürzester Zeit ein perfektes Luftschloss auf. Wir senden uns täglich zig Nachrichten. Statt zu arbeiten (Sorry, Boss!) tippe ich mir unter dem Pult die Finger wund.
Unser Thread liest sich wie ein Fantasy-Plot. Wir kreieren eigene Rollen, geben uns fiktive Namen, erstellen Neben- und Hauptdarsteller, formen Landschaften, Orte, Zeiten. Würde ich es nicht besser wissen, wäre ich mir sicher, dass die Verfasser dieser Zeilen auf einem LSD-Trip sind.
Immer wieder schaue ich mir Kais Bilder an. Er ist sehr gross, sehr schlaksig, sehr glatzköpfig und sehr blass. In meiner Welt passt diese optische Erscheinung so gar nicht zu den lyrischen Ergüssen.
Als wäre das nicht verwirrend genug, scheiden sich Kais und meine Geister jedes Mal, wenn wir die Fantasie-Welt kurz verlassen, um den ein oder anderen Realitätscheck zu machen. Hier erfahre ich, dass er die Stadt hasst, dass Urban Gardening sein grösstes Hobby ist, dass ihm Kleider suspekt sind und dass er sich nie im Leben ein Auto kaufen würde. Fliegen findet er auch das Letzte. Ferien macht er nur als Backpacker mit seinem VW-Büssli.
Fakt ist: Kai und ich könnten nicht unterschiedlicher sein.
Fakt ist aber auch: Meine Neugier ist grösser als meine Intuition. Ich will wissen, wie es sich anfühlt, wenn ich Kai gegenüberstehe.
Also inszeniere ich ein Date in der Mitte unserer Wohnorte. Wir treffen uns am einem Donnerstag in Zofingen. Ich erkenne Kai von weitem. Nicht schwierig. Er überragt alle.
Noch während wir aufeinander zugehen, merken wir, dass die ganze Magie rund um unsere Fantasiewelt wie weggezaubert ist. Kai steht die Enttäuschung genau so ins Gesicht geschrieben wie mir. Wir begrüssen uns mit einem unbeholfenen Handschlag. Und lächeln gequält.
Nun kommt es zu unserer einzigen Gemeinsamkeit: Wir haben beide nicht die Eier, das Date an dieser Stelle zu beenden. Also sitzen wir ein paar Minuten später in einer Bar, wo wir uns nicht nur nichts zu sagen haben, wir sind uns nicht einmal nur ein bisschen sympathisch.
Er lässt eine Hasstirade über Zürich los und redet das wenige, das ich von mir gebe, schlecht. Nach einer halben Stunde zückt er sein Handy. Er müsse «leider» gehen. «Super», sage ich.
Nach drei Tagen will ich Kai auf Tinder unmatchen, als mich seine Nachricht erreicht: «Na ja, du hast auch gemerkt, dass es zwischen uns nicht passt. Ich vermute, dass unter deiner Schminke eine kluge Frau steckt. Du hast es nicht nötig, dich unter modischer Kleidung zu verstecken. Ich wünsche dir, dass du zu dir findest. Alles Gute für deine Zukunft. LG.»
Noch während ich an einer adäquaten Antwort rumhirne, hat er mich ungematcht.
Ich zünde eine Zigi an. Während ich da so an meiner Kippe ziehe, merke ich: Die schwierigste Beziehung meines Lebens hatte ich nicht mit einem Mann, sondern mit einer Scheiss-Dating-App.
Was mich zu folgender Schlussfolgerung bringt: Liebes Grosi selig, heute hier und jetzt gebe ich zu: Du hattest jedes einzelne Mal recht, als du sagtest, dass früher alles besser war. Ich weiss, dass du mir dazu raten würdest, den Tinder-«Gugus» sein zu lassen. Ich überlegs mir. Um der ganzen Misere aber doch noch was Gutes abzugewinnen: Dank Kai denke ich gerade intensiv an dich und lächle.
PS: Ich vermisse und liebe dich.
PS 2: Ja, ich bringe dir beim nächsten Besuch ein Herrgöttli mit. Oder zwei.
Adieu,
Dann schick sie per Mail an Emma: emma.amour@watson.ch