Hand aufs Herz: habt ihr schon mal nach «Sex» gegoogelt? Über drei Milliarden Treffer ergibt der Suchbegriff. «Liebe» ergibt nur 286 Millionen. Sex ist immer und überall – und es gibt scheinbar nichts, das sich nicht mit nackten Tatsachen und schlüpfrigen Slogans bewerben lässt, von Bier über Fastfood oder Joghurt bis zum Bügeleisen. Dabei ergab eine Umfrage des Portals Statista, dass ein gutes Drittel der Frauen Sex gar nicht so wichtig findet. Dasselbe Portal erfragte auch, dass gerade mal 16 Prozent der Schweizer Frauen und 20 Prozent der Männer echt zufrieden sind mit ihrem Sexleben.
Und die «Sanitas Health Forecast Studie» sagt, dass wir hierzulande durchschnittlich 5,4 Mal Sex pro Monat haben, es aber gern doppelt so oft tun würden. Und zwar sowohl Männer als auch Frauen.
Darüber reden tun wir selten. Vor allem dann nicht, wenn unser Sexualleben nicht so perfekt ist, wie wir glauben, dass es sein sollte. Dabei sind sogenannte sexuelle Funktionsstörungen recht häufig. Laut verschiedenen Studien in den Industrieländern leiden zum Beispiel ungefähr 30 Prozent der Frauen und Männer regelmässig unter Libidoverlust. 11 Prozent der Frauen haben Störungen der sexuellen Erregung, gut 18 Prozent der Männer Erektionsstörungen – in den USA betrifft dies gar 50 Prozent der Männer zwischen 40 und 70 Jahren auf irgendeine Art und Weise. Gut ein Viertel der Männer klagt über Ejakulations- beziehungsweise Orgasmusstörungen, jeder Dritte hat regelmässig einen vorzeitigen Samenerguss. 10 Prozent der Frauen empfinden Geschlechtsverkehr als unangenehm bis schmerzhaft, jede Vierte hat Hemmungen beim Orgasmus, fünf Prozent hatten noch gar nie einen Höhepunkt.
Natürlich kann all dies körperliche Ursachen haben, zum Beispiel hormonelle Veränderungen, Krankheiten oder die Symptome treten als Nebenwirkung von Medikamenteneinnahme auf. In vielen Fällen sind die Störungen aber reine Kopfsache. Und haben nicht selten damit zu tun, dass wir uns selbst aufgrund von gesellschaftlich eingeprägten Vorstellungen selbst unter Druck setzen.
Ich habe Christine Sieber und Céline Berset von «Sexuelle Gesundheit Schweiz» gebeten, fünf dieser Glaubenssätze, die uns unser Sexleben so schwer machen, unter die Lupe zu nehmen. Das sagen sie:
Gehen wir hier von dem Konzept des «triebgesteuerten Mannes» aus? Das ist vollkommen veraltet. Bei allen Menschen, also auch bei männlichen Personen, hat das physische und das psychische Wohlbefinden einen grossen Einfluss auf die Sexualität. Belastende Lebensereignisse wie zum Beispiel der Verlust der Arbeitsstelle, der Tod von nahen Angehörigen oder eine schwere Erkrankung können Einfluss auf die Sexualität von allen Menschen nehmen. Dieses Klischee kann männliche Personen unter starken Druck setzen. Denn wenn er keine oder weniger sexuelle Lust hat, wird ihm damit direkt das Mannsein abgesprochen.
Für manche Menschen ist der Orgasmus wichtig, für andere nicht. Denn auch ohne Orgasmus kann der Sex sehr lustvoll sein. Guter Sex beginnt mit dem Einverständnis der involvierten Personen und kann in einem Orgasmus enden. Vielleicht nur für eine Person, vielleicht für beide. Vielleicht sogar in einem gleichzeitigen Orgasmus. Das entspricht aber sehr oft nicht der Realität, wie sie Paare erleben. Sexualtherapeut:innen sind der Meinung, dass es möglich, aber sehr schwierig ist, gleichzeitig einen Orgasmus zu haben.
Brauchen sie oder haben sie öfter Sex als Frauen? Eine deutsche Studie zeigt auf, dass die sexuelle Aktivität einer Person von vielen unterschiedlichen Faktoren abhängt: Alter, Gesundheitszustand und Beziehungsstatus sind besonders ausschlaggebend. Wichtigster Faktor ist die Beziehungssituation. Menschen, die aktuell Single sind, haben als «Daumenregel» weniger Sex. Wird die sexuelle Aktivität unabhängig und nach Altersgruppen aufgeschlüsselt, geben in der Altersklasse 18 bis 25 Jahren 37 Prozent der befragten Männer und 33 Prozent der Frauen an, keinen Sex zu haben. In der Altersklasse 26 bis 35 Jahren sind es 22 respektive 20 Prozent und zwischen 36 bis 45 Jahren 23 respektive 22 Prozent.
Die gute Nachricht ist: Sex ist lernbar! Sexuelle Bildung ist dabei grundlegend, denn Sex ist eben gerade nicht eine Frage der Technik, sondern hängt davon ab, wie gut ich mich selbst kenne. Ich lerne, meine Bedürfnisse in zwischenmenschlichen Interaktionen zu benennen. Ich kann lernen, beim Sex lustvoll zu kommunizieren. Ich kenne meine Wünsche, meinen Körper und die lustempfindlichen Stellen, vielleicht auch über Selbstbefriedigung. Ich lerne, welche Stellungen mir besonders Lust bereiten. Und ich lerne, Grenzen zu setzen, und wie ich Grenzen anderer Menschen wahrnehme und einhalte. Wenn ich mich und meine Wünsche, meine Bedürfnisse, meinen Körper und meine Grenzen gut kenne, kann ich in eine lustvolle Beziehung zu meinem Gegenüber treten. Die Frage nach der in diesem Moment bevorzugten «Technik» bei der sexuellen Begegnung wird zu einer Frage, welche die am Sex Beteiligten gemeinsam beantworten.
Es ist ein weitverbreiteter Mythos, dass es einen vaginalen und einen klitoralen Orgasmus gibt. Aus biologischer Sicht besitzt die Vagina weniger Nervenenden als die Klitoris. Die Klitoris ist aus verschiedenen Schwellkörpern aufgebaut. Nur die Klitoriseichel und die Klitoriskappe (Vorhaut) sind sichtbar, die grössten Teile der Klitoris befinden sich im Inneren des Körpers – nahe bei der Harnröhre und hinter der Vaginalwand. Die Klitoris kann also durch das Eindringen von einem Penis, Finger oder Sextoys über die Vaginalwand stimuliert werden, aber der Zugang ist weniger direkt als bei der äusserlichen Stimulierung auf Höhe der Klitoriseichel. Es gibt jene, die durch eindringende Stimulation zum Orgsmus kommen, andere stimulieren die Klitoris lieber äusserlich. Es gilt, selbst herauszufinden, was einem am besten entspricht.
Plaudert doch mal ein bisschen aus dem Nähkästchen. Sprecht ihr über Sex und entsprechende Störungen? Wenn ja, mit wem? Wenn nein, warum nicht? Was denkt ihr über die erwähnten Glaubenssätze? Gibt es noch weitere, die eurer Meinung nach nicht stimmen? Teilt es mit uns in den Kommentarspalten.