Es scheint die Antwort auf alle Probleme des westlichen Menschen zu sein. Ein Wort, ein Adjektiv oder in Grundschulsprache ein Wiewort.
«SLOW!»
Langsam muss es werden, unser Leben. Das predigen dieser Tage zumindest zahlreiche Millennials, die auf YouTube ihre glücklichen, runtergeslowten Gesichter zeigen und mit einer Mischung aus Eso-Yoga und Nietzsche-Argumentationen unser Leben schlechtreden. Schlechtreden, weil wir es zu schnell leben. Uns nicht wehren gegen die Tempo-Diktatur der Leistungsgesellschaft.
Alles «Unslowe» in unserem Leben ist sehr, sehr böse. Sagen die runtergeslowten Selfpublisher. Böse für das Shakra, die Umwelt oder sonst irgendein essentielles Gleichgewicht, das dem modernen Mensch fatalerweise abhanden gekommen ist. Um dagegen vorzugehen, haben es sich Leute mit Kamera und Internetzugang zum Hobby (oder gar Job) gemacht, der Welt ihre Erfahrungen zu berichten, wie toll es ist runterzufahren. Beim Essen, beim Shoppen, beim Reisen, bei der Kindererziehung, beim Vögeln ... ja gar beim Altern. Hier sind die Überlegungen der Slowifizierung, deren geschichtlicher Hintergrund, ihre Genialitäten und Debilitäten zusammengetragen.
1986 hat sich ein italienischer Feinschmecker sehr fest darüber aufgeregt, dass auf der prächtigen Piazza di Spagna ein McDonald's-Restaurant eröffnen soll. Der Mann namens Carlo Petrini hat dann ein Prostest-Spaghetti-Essen veranstaltet und damit den Startschuss für die Slowifizierung der Konsumgesellschaft abgefeuert.
«Slowfood statt Fastfood!» – Petrini meinte damit nicht nur langsam statt schnell, sondern sah das Wort «slow» als Akronym für:
Sustainable (nachhaltig)
Local (lokal)
Organic (bio)
Whole (ganzheitlich)
Von der Aktion berichteten damals sämtliche Leitmedien der Welt. Es schien damals so, als hätte die urbane Mittelschicht des Abendlands brennendst auf jene vier Buchstaben gewartet. Eine kleine Kritik an der Welt war von Nöten, mit der man sich seinen unerträglichen Stress erklären kann.
Die kleine Kritik tönte in etwa so: Kein Wunder, sind wir so gestresst, wenn selbst die Produktion unserer Nahrungsmittel bloss auf Tempo und nicht auf Qualität ausgelegt ist.
Das Klagen wurde vom Markt tatsächlich ernstgenommen. Die Errungenschaften jener Bewegung zeigen sich heute in einem vielfältigen Sortiment an qualitativen Lebensmitteln in den Supermärkten der westlichen Welt und einem grösseren Bewusstsein für die Konsequenzen von Importwaren, Zusatzstoffen und Massentierhaltung.
Während die meisten ihre Lebensentschleunigung auf den Kühlschrank beschränken, haben einige Anhänger der Slow-Food-Bewegung schon früh in andere Teile ihres Lebens geguckt und analysiert, wo sonst noch eine Tempodrosselung nötig wäre.
Einer jener Denker war Carlo Honoré. Sein Buch «In Praise of Slowness» ist für die Slow-Life-Bewegung etwa so bedeutend wie «Das Kapital» für den Kommunismus. An einer Stelle schreibt er:
Nach seinen Vorschlägen fanden Slow-Life-Konzepte nach und nach den Weg zum Interesse der Mainstream-Gesellschaft. Besonders stark verbreitet ist etwa das Bedürfnis, Kleider auf slowe Weise zu konsumieren, beziehungsweise sich dem Konzept der Slow Fashion zu verschreiben.
Dabei achten einige zum Beispiel darauf, generell weniger Kleider anzuschaffen. Andere legen Wert auf fair produzierte und qualitativ hochwertige Klamotten, wieder andere kaufen aus dieser Überzeugung heraus lediglich Mode aus zweiter Hand.
Sich mit den selber gezogenen Zucchini aus dem Garten und dem DIY-Batik-Shirt zu brüskieren, macht sich nicht wirklich gut, wenn man zwei Mal im Jahr nach Bali in einen Yoga-Retreat fliegt. Das Konzept des slow travellings will diesem Widerspruch entgegenwirken.
Radikale slow traveller verzichten einerseits auf Langstreckenflüge und versuchen ihre Ferien so zu organisieren, dass sie ihr Reiseziel mit Zug, Bus oder gar zu Fuss erreichen. Andererseits bemüht man sich beim slow travelling Hektik zu minimieren. Man verzichtet auf das gestresste Abklappern der touristischen Sehenswürdigkeiten und konzentriert sich darauf, das lokale Gewerbe zu unterstützen. Globale Hotelketten und Pauschalreise-Angebote werden so gut wie möglich boykottiert.
Beim slow parenting versuchen Eltern das Leben ihrer Kinder zu entschleunigen. Dabei möchten die Erzieher ein Umfeld schaffen, in dem das Kind sich und die Welt möglichst autonom kennenlernen kann. In der Realität heisst dies, dass auf moderne «Beschäftigungsgadgets», wie iPads, TV-Programme oder Spielkonsolen verzichtet wird. Stattdessen soll das Kind viel Zeit in der Natur verbringen und in interaktiven Spielen mit anderen Kindern oder Erwachsenen erfahren, was sozialer Umgang bedeutet. Des Weiteren lehnen slow parents den Trend, Kinder in zahlreiche ausserschulische Kurse (Frühenglisch, Geigenstunde etc.) zu schicken, vehement ab.
Dieser Erziehungsstil ist von einer Kritik an der Leistungsgesellschaft getrieben. Er weigert sich, bereits Kinder im Vorschulalter einem System auszusetzen, das sie mittels Klavierunterricht und Mathenachhilfe zu möglichst lukrativen Erwachsenen heranziehen will.
Jene Ansichten geraten sehr oft unter Beschuss pädagogischer Kritik. Man wirft den slow parents mangelndes Verantwortungsbewusstsein vor, denn sie würden ihre Kinder idealistisch erziehen und sie nicht auf die taffe Realität der vorherrschenden Verhältnisse vorbereiten.
Wie man den Überschriften ablesen kann, dringt die Slowifikation des Lebens immer mehr in die private Sphäre ein. Was im Grunde nicht überraschend ist: Folgt man der grundsätzlichen Argumentation der verschiedenen slow movements, wird nämlich deutlich, dass die Strukturen der Leistungsgesellschaft so tief in uns drinstecken, dass wir gar mit ihnen ins Bett steigen.
Beim slow sex versucht man sich von diesen Strukturen zu befreien. Es geht darum Zärtlichkeiten und Berührungen auszutauschen, deren primäres Ziel nicht unbedingt durch einen Orgasmus definiert wird. Sexualität, so die slow-sex-Sympathisanten, mutieren in einer Leistungsgesellschaft zu einem einfachen Bedürfnis, das man mit einem Orgasmus zu stillen glaubt. Wer am nächsten Morgen um sieben Uhr aufstehen muss, um möglichst produktiv einer Lohnarbeit nachzugehen, nimmt sich am Abend davor wohl kaum vier Stunden Zeit für eine ausführliche Exploration seiner körperlichen und seelischen Gelüste.
Slow Sexer versuchen sich deshalb aktiv Zeit für ihre Sexualität zu nehmen. Dabei versuchen sie dem Druck einer effizienten Befriedigung zu trotzen und sich intensiv mit dem Erkunden von Erregung und Zuneigung zu beschäftigen.
Die Ideen rund um die Entschleunigung des Lebens in einer rasanten, nach Leistung ausgerichteten Welt haben durchaus Berechtigung. Seinen Milkshake mit Fairtrade-Bananen und Hafer- statt Kuhmilch zuzubereiten, ist nicht nur für den eigenen Körper, sondern auch für den Körper der Bananenplantagenarbeiterin und für die Gesundheit des Planeten besser. Gleiches gilt für den Konsum von fair produzierter Kleidung, das Verzichten auf Flugreisen oder die Minimierung von Plastikabfall.
Dennoch spielt schliesslich auch sowas wie ein Motiv eine wichtige Rolle. Wieso macht man das jetzt nochmal? Zum Beispiel das mit dem Abfall-Konfiglass? Für den Planeten oder fürs Instagram-Profil?
Diese Frage wirft uns schliesslich zurück zu den zahlreichen Millennials, die uns all die oben beschriebenen verlangsamten Lebensstile auf ihren Social-Media-Kanälen schmackhaft machen wollen. Nehmen wir zum Beispiel die österreicherische YouTube-Dame und Influencerin «Jana Klar». Sie verschreibt sich dem Minimalismus, was nach ihren Angaben soviel bedeutet, wie nur die Dinge zu besitzen, die man auch wirklich braucht und für die man dankbar ist. In ihrem Fall ist das unter anderem ein Bilderrahmen ohne Inhalt. Statussymbolisch, versteht sich. Auf jeden Fall sagt sie, sei ihr Leben so viel leichter und mühelos geworden, seit sie «minimalistisch» lebt.
Ein anderes Beispiel für einen runtergeslowten Internetprediger ist der Schweizer Fitnessguru Patrick Reiser. Er plädiert auf YouTube und Instagram für vegane Ernährung, geführte Meditationen und eine vollkommen Ich-zentrierte Lebensweise. In einem Vortrag behauptet er:
Bei den Bloggern scheint das slowe Leben vor allem ein Ziel zu haben: Sich und sein Leben geil zu finden. Oder anders gesagt: Länger zu leben. Langsamer zu altern. Slow aging sozusagen. Es geht nicht darum, eine praktische Kritik am Globalismus zu leben, sondern um den reinen Verzicht und um die Züchtigung des eigenen Körpers. Denn nur wer seinen eigenen Körper kennt, kann ihn auch optimieren und so irgend einem Modell (sei es esoterisch oder pharmazeutisch) von Gesundheit anpassen.
Slow ist die Antwort auf die Überforderung des westlichen Menschen. Eine wahrlich narzisstische Antwort. Fast alle Formen der slowen Lifestyles sind Entscheidungen, die nur westliche Menschen treffen können. Obwohl in einer globalisierten Welt nahezu jeder Mensch dem Leistungsdruck des Kapitalismus ausgesetzt ist, bleibt es das Vorrecht weniger Menschen, eine fancy Entschleunigung und «Verethisierung» ihres Konsum- und Arbeitsverhaltens einzugehen. Zudem können heutzutage – rein evolutionsbiologisch gesehen – Menschen der Erde eh nur schaden. Ist es da nicht dreist, langsamer altern zu wollen? #positivethinking