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Kulturgeschichte des Freibades: Von der Tabu-Zone zum Fleischmarkt

Wie aus der Tabu-Zone Badi ein Fleischmarkt wurde

bild: wikimedia
Damit wir heute alle in die Badi können, musste das Schwimmen enttabuisiert werden.
11.06.2017, 13:2712.06.2017, 03:17
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Sie gehören zu einem heissen Sommertag wie die Schweisstropfen, die das Baumwoll-Shirt an den glühenden Rücken kleben, wie der Schoggi-Hut auf die Raketenglacé oder die Sonnencreme auf die Nasenspitze. Die Rede ist von Freibädern. Denn auch wenn der Besuch der örtlichen Badi manchmal anstrengend und ziemlich oft sehr ungemütlich ist, haben die Badeanstalten in der Schweiz Kultstatus.

Nach dem Dauerregen der letzten Tage scharten sich am Sonntag, 27. Juli 1997 in Bern die Sonnenhungrigen ins Marzilibad um das Sommerwetter zu geniessen.
(KEYSTONE/Alessandro della Valle)
Bild: KEYSTONE

Aber das war nicht immer so. Denn noch während der Eröffnung des Marzilibades in Bern 1782, einem der ersten Schweizer Freibäder, galt Schwimmen noch als blasphemischer Ungehorsam. Fünf Rappen musste man damals abdrücken für den Zulass in eine der zwei sichtgeschützten Anlagen am Berner Aareufer. Männer und Frauen hielten sich separiert auf. Abkühlen konnte man sich in einem tümpelartigen Weiher. In den Fluss ging man nicht. Das Publikum bestand mehrheitlich aus selbsternannten Naturalisten.

1822 wurde vor dem Marzili die akademische Badeanstalt erbaut. Sie bestand aus einem ovalen Becken, das mit Wasser aus der Aare gespeist wurde. Die beiden kostenpflichtigen Séparées sind noch heute vo ...
1822 wurde vor dem Marzili die akademische Badeanstalt erbaut. Sie bestand aus einem ovalen Becken, das mit Wasser aus der Aare gespeist wurde. Die beiden kostenpflichtigen Séparées sind noch heute vorhanden.bild: burgerbibliothek bern

Was diese Naturalisten im späten 18. Jahrhundert im Marzili trieben, weiss niemand so genau. Was sicher ist: Es widerspiegelte auf keinen Fall den gesellschaftlichen Grundtenor der damaligen Zeit.

Griechen planschten, Christen ertranken

Hätte der Schweizer Gelehrte Nikolaus Wynmann sein Buch «Colymbetes, Sive De Arte Natandi», das weltweit erste Werk über die Schwimmkunst, im alten Griechenland verfasst, hätte er wahrscheinlich eine Auszeichnung für hochstehende karitative Arbeit gewonnen. Denn wer in der Antike weder schreiben noch schwimmen konnte, galt als Barbar.

«Du wirst es beinahe spielend lernen, wenn du recht sorgfältig zusiehst, wie die Frösche mit den Hinterbeinen schwimmen.»
Nikolaus Wynmann

Aber Wynmann schrieb sein Buch im 16. Jahrhundert. Und damals beherrschte statt platonischer Philosophie restriktive Kirchenpolitik den Common Sense. Dass sich der Mensch, die Krone der göttlichen Schöpfung, ein Beispiel an einer schmierigen Amphibie nehmen soll, empörte die Kirche derart, dass sie Wynmanns Buch auf den Index setzte. 

Es vergingen über zweieinhalb Jahrhunderte, bis das Thema Schwimmen wieder im grösseren Stil aufs Tapet kam. Jährlich ertranken Tausende Menschen in Flüssen, Seen, ja sogar in Bächen. Aufklärer wie Locke und Rousseau machten sich als allererste wieder für das Schwimmen als Körperertüchtigung und Überlebenstaktik stark. Im deutschen Sprachraum brach der Philanthrop und Gründervater der Turnbewegung Christoph Friedrich Gutsmuths das Schweigen über die menschliche Fortbewegung im Wasser.

«Kleines Lehrbuch der Schwimmkunst zum Selbstunterrichte» hiess der Band, in dem Gutsmuths 1798 folgende Aussage festhielt:

«Bisher ist das Ertrinken Mode gewesen, weil das Schwimmen nicht Mode ist.»
Christoph Friedrich Gutsmuths

«Soll denn das Schwimmen nicht auch bei uns Mode werden? Als Sport, Vergnügen und Notwendigkeit?», fragte der deutsche Pädagoge weiter. Und das wurde es auch. Zuerst für die Oberschicht, dann für Männer und schleichend scheu auch für Frauen.

Badeanstalten
Badehaus am Cauma-See im 19. Jh.bild: badi-info

Badehütten schossen im Zuge dieser Säkularisierung aus den Ufern der Schweizer Flüsse und Seen. Niemand war mehr vom Baden abzuhalten. Der Schwimmkult wurde tatsächlich zur Mode. Auch für Frauen. Womit wir bei der nächsten nassen Problematik wären: Damen trugen zum Baden oft rockartige Schwimmgewänder aus Baumwolle, die ungünstigerweise die Eigenschaft hatten, mehr zu offenbaren als zu verhüllen.

Nasse Baumwolle zeichnet primäre wie auch sekundäre Geschlechtsteile mit höchster Zuverlässigkeit ab.
Nasse Baumwolle zeichnet primäre wie auch sekundäre Geschlechtsteile mit höchster Zuverlässigkeit ab.Bild: Library of Congress

In den Städten musste die Nachfrage des gemeinen Volkes nach dieser neuartigen Freizeitbeschäftigung deshalb besser organisiert werden: Das Kastenbad wurde erfunden. Mit geschlechtergetrennten Anlagen, versteht sich.

Badeanstalten
1837 wird beim Bauschänzli an der Limmat in Zürich ein «Badehaus für Frauenzimmer» eingerichtet. Es war nach dem «Bains des Dames» in Neuchâtel landesweit das erste seiner Art.bild: Sportamt-archiv zürich

Weitere Bäder aus dieser Zeit:

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Badeanstalten um 1900
Das Strandbad Lugano-Lido. bild: badi-info
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Trotz separierter Frauenbadis versuchte man noch während des gesamten 19. Jahrhunderts, die Frauen auf verschiedenen Wegen vom Baden abzuhalten. In einem Schwimmratgeber für Frauen aus dem Jahr 1878 steht zum Thema «Eintauchen ins Wasser» beispielsweise Folgendes:

«Dieses Schreckerlebnis [das Eintauchen] zieht für die Nerven der Frauen häufig irreparable Schäden nach sich.»

Trotzen mit immer weniger Stoff

Evolution der weiblichen Badehose
http://s6.pikabu.ru/post_img/big/2015/07/17/0/1437081467_1988750965.jpg
bild: pikabu

In den 1930er-Jahren – am Punkt, an dem die Entwicklung im obigen Bild endet – begann eine Revolution. Die Revolution der Lebensreform. Eine eher bürgerliche Art der Bewegung war der Badi-Boom. Es gehörte zum guten Ruf einer Stadt, ihren Bürgerinnen und Bürgern ein Freibad zur Verfügung zu stellen. Die Anlagen, die in dieser Zeit entstanden, sind die Grossmütter der Badi, wie wir sie heute kennen.

Ein Freiheitsgefühl in knalligen Farben war die Vermarktungsstrategie der neuen Freibäder.
Badeanstalten
Freibäder bzw. Strandbäder wie in Fürigen und Baden lösten das traditionelle Kastenbad ab.bild: badi-info
Badeanstalten
bild: badi-info

Doch für die Frauen, die aufgrund ihrer Rolle als Erzieherinnen zusammen mit den Kindern die grösste Zielgruppe der Badis bildeten, war das reine Angebot fürs öffentliche Baden noch nicht Befreiung genug. Im Gegenteil: Das Strandbad wurde zwar in dieser Zeit zu einer Art Statussymbol für Fortschritt und Moderne, für Frauen aber auch zu einem Ort, an dem allzu freizügiges Baden kontrolliert werden konnte.

Ein italienischer Polizist gibt einer Frau einen Strafzettel, weil sie verbotenerweise einen Bikini trägt, 1950er.
Ein italienischer Polizist gibt einer Frau einen Strafzettel, weil sie verbotenerweise einen Bikini trägt, 1950er.bild: rarehistoricalpictures

So versuchte der Zürcher Stadtrat 1942 zweiteilige Badeanzüge als «nicht zulässig» zu taxieren. Proteste von Badenixen und der Textilindustrie liessen ihn die Übung jedoch abbrechen. Vier Jahre später stellte der Automechaniker Louis Réard im Pariser Piscine Molitor den Bikini zum ersten Mal der Öffentlichkeit vor. Réard selbst ahnte, dass er mit dieser Präsentation eine Kulturbombe hochgehen liess. Deshalb wohl auch die Anspielung auf die Bikini-Inseln, auf denen fünf Tage vor Réards Präsentation einer der ersten Atombomben-Tests der USA durchgeführt wurde.

der erste bikini
Weil sich kein Model auf Réards waghalsiges Unterfangen einlassen wollte, musste der Bikini-Schöpfer kurzerhand eine Nackttänzerin aus dem Varietétheater «Casino de Paris» engagieren.bild: wikimedia

In der Schweiz konnte sich das stoffarme Badekleid aber erst in den 1960ern wirklich durchsetzen. Ausschlaggebend dafür war der Auftritt von Ursula Andress 1962 im James-Bond-Film «007 jagt Dr. No».

Bild
bild: sopitas

Freiheit im Freibad –  und jetzt?

1974 führte die Stadt Zürich eine ausdrückliche «Oben-Ohne-Erlaubnis» ein, worauf Frauen in anderen Schweizer Städten sich diese Freiheit kurzerhand auch in ihrem örtlichen Freibad herausnahmen. Es fand ein regelrechter Freier-Busen-Boom in den Schweizer Badis statt. Die Badi mauserte sich zu einem Ort der salonfähigen Progression.

Der Zürichsee bei Tiefenbrunnen in den 80er-Jahren. Wer trägt bei diesem Wetter schon einen Büstenhalter?Bild: KEYSTONE

Heute wird die Nackte-Haut-Erlaubnis kaum mehr in Anspruch genommen. Die Badi wurde wieder zahmer: Kinder planschen immer im Becken, Frauen sonnen, baden, lesen Magazine. Männer auch. Alle tragen wenig Stoff, setzen sich ins Szene, machen Selfies. Und alle glotzen. Es ist friedlich, aber angespannt; schön, aber laut, eine Badi zu besuchen.

Und was ist mit den mittlerweile zu Omas Gewordenen? Den Badenixen, die den Frauenkörper ins Wasser gebracht und vom prüden Stoff befreit haben? Die sich das Freibad als Freiraum für sich und ihre Kinder (ohne Geschlechtertrennung!) erkämpft haben? Sie gehören zu den letzten, die immer noch ihre nackten Brüste der Sonne entgegenstrecken. Doch sie gehen den gaffenden, körperkritischen Blicken im Freibad aus dem Weg. Sie haben sich zurückgezogen. An den Anfang der Badikultur: in die noch übrig gebliebenen Frauenbadis. 

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10 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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FlohEinstein
11.06.2017 14:14registriert September 2014
Sehr schön recherchierter Artikel, merci! Zum Vergleich empfiehlt es sich, mal die isländische Badekultur anzusehen. Dort hat jedes grössere Dorf mindestens eine Badi, und der Hotpot ist der Dorftreff.
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Calvin Whatison
11.06.2017 14:17registriert Juli 2015
Toller Artikel und erst die Bilder 😎👍🏻
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Yes.
11.06.2017 21:06registriert November 2015
Spannender Artikel 👍🏻
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