Meine Mutter sagte mal, ich sei vielleicht die Reinkarnation eines Border Collies. Weil mich Dinge interessieren, die am Boden liegen. Daran dachte ich, als ich an jenem spätherbstlichen Samstagnachmittag schon wieder einmal meinem reflexartigen Trieb folgte und vom Kaugummi besäten Trottoir ein verknartschtes rotes Ding aufhob.
Neben mir zog eine kurdische Anti-Erdogan-Demonstration vorbei. Ich entfaltete das rote Etwas in meiner Hand, das sich nun als eine Art Sticker entpuppte, und ich erwartete, in wenigen Sekunden den durchgestrichenen Kopf des türkischen AKP-Vorsitzenden vor Augen zu haben. Stattdessen lugte mich, aus einem Schweizerkreuz herausstechend, das allsehende Auge an und fragte: «Wetsch d Wahrheit wüsse? Dänn folg üs uf Instagram!»
Die «Wahrheit» kommt in einem unendlich langen Meme-Katalog daher. Memes, die sagen, dass die Autobahn-Vignette ein staatliches Instrument zur Ausbeutung des Bürgertums sei. Dass wir eh schon viel zu viel Steuern bezahlen würden, dass die 40 Stutz, die uns die Obrigkeit damit abknöpfe, halsabschneiderisch seien. ÖV-Ticketpreise werden nicht diskutiert.
Andere Bilder zelebrieren Songtexte von 2pac und Michael Jackson: «They don't care about us!»
Es sei ja klar, wollen die Memes deutlich machen, dass Stars mit solchen Lyrics von den Illuminati getötet werden. Weil diese wollen, dass Popstars so sind wie Miley Cyrus, Justin Bieber und Lady Gaga: menschliche Roboter, die von ihnen erschaffen wurden, «um die fleischliche Lust des Fussvolkes zu versklaven.»
Heavy, denke ich und fange damit an, mich durch die Storys zu wischen. Zwischen Ausschnitten aus 9/11-Dokus und Videoschnipseln, die zu beweisen versuchen, dass Michelle Obama transgender und Hillary Clinton pädophil ist, erblicke ich einen Aufruf zu einem öffentlichen Follower-Treffen. Meine Aufmerksamkeit nimmt zu.
Sonntag, 13 Uhr, Bahnhof Stadelhofen. Eingeladen sind alle, keine Spur von Geheimnistuerei, alle sollen mitmachen. Alle 26'200 Follower.
Am folgenden Sonntag. Der erste Schnee fällt. Ich laufe am Weihnachtsmarkt auf dem Sechseläutenplatz vorbei. Alle Hände, die nicht in Jackentaschen vergraben oder in Wollhandschuhen eingepackt sind, wärmen sich an einem Styroporbecher voll Glühwein. Es riecht nach Maroni.
Um 12:50 stelle ich mich an den äussersten Rand des Bahnhofplatzes Stadelhofen und bemühe mich, nicht so auszusehen, als würde ich warten. Mir wurde nie beigebracht, wie man Leute aus dem Internet trifft.
Babak* wartet auch. In der Mitte des Platzes, beim Brunnen. Er bemüht sich keineswegs, sein Warten zu vertuschen. Babak ist 17 oder 18, er macht das Gymi und trägt eine dieser Jacken mit Kunstfell-Saum an der Kapuze. Seine Stimme ist hastig.
Er: Bist du von Switzerland Awakening?
Ich: Ja, also dieser Instagram-Account, ehm ja, ich bin wegen dem Treffen hier. Also ich bin neu.
Er: Ah nice.
Ich: Kommen noch mehr?
Er: Ja, es sollten schon so 10 oder so kommen. Dieses Mal sogar Frauen. Aber jetzt kommt dann bald der Admin, dann wissen wir mehr.
Ich: Der Admin?
Er: Ja, der Raphi*. Er macht die Seite. Er hat sie gegründet und so.
Ich: Aha.
Er: Wie lang bist du schon wach? Erst seit kürzlich?
Ich: Bin so um zehn aufgestanden.
Er: Nein, wach! Weisst du: Alle Leute hier, die du siehst. Die sind ja irgendwie in der Matrix. Die leben ein Leben und checken überhaupt nicht, was gerade in der Welt abgeht. Die sind beeinflusst von Medien und Konsum und all dem. Die schlafen, sozusagen. Und wir, die wach sind oder aufgewacht sind, wir checken eben, dass all dies eine Farce ist.
Ich: Also, wenn das so ist … also, ich glaube, ich bin halbwach.
Er (freudig): Das ist doch schon mal was. Schön, dass du hier bist. Wir werden dir heut Dinge erzählen, die dein Denken bis zum Anschlag hart ficken werden. Zigarette?
Schliesslich sind wir zu fünft. Fünf von sechsundzwanzigtausend.
«Okay, wir teilen uns auf. Die zwei Mädels kommen eh nicht mehr. Die gehen bestimmt shoppen oder so. Die Matrix hat sie noch in ihren Fäusten», Raphi lacht. Er ist der Admin. Er sagt, wo's lang geht. Er hat auch die Flyer machen lassen, die seiner Meinung nach total «wack» sind, falls ich das richtig verstanden habe. Ich bin nervös und nicke mehr, als ich das sonst tue.
Raphi trägt Nike-Schuhe, einen hippen Rucksack und einen Pullover mit dem allsehenden Auge drauf. Seine Oberarme sind muskulös. Er könnte bei Instagram auch gerade so gut einen Mode- oder einen Fitness-Blog führen; vielleicht sogar mit demselben Erfolg. Das Internet des Spätkapitalismus macht solche Sachen möglich.
Doch der Spätkapitalismus, das ist Raphis Feind. Beziehungsweise sind die Begründer jener Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung seine Peiniger. Unser aller Peiniger. Unter anderem. Sagt Raphi.
«Ich geh mit Vedran*. Ihr beide geht mit dem Neuen. Und sprecht dieses Mal nur Junge an. Wir wollen bloss Leute, die Instagram haben. Und sagt ihnen, sie sollen ihr Handy gleich hervornehmen und auf Follow klicken. Zuhause machen sie's eh nicht.»
Aufbruch zum Seebecken. Es ist natürlich viel zu kalt, um Flyer zu verteilen. Ich habe sowieso nicht erwartet, heute Flyer verteilen zu müssen. Ich habe gedacht, wir werden bloss reden. Und wie ich mich so aufrege, dass ich nun tatsächlich Leute anquatschen muss, draussen, in der Kälte, ertappe ich mich dabei, wie ich mir viel lieber wünsche, mit Raphael aufzubrechen, als mit den anderen zwei. Er ist charismatisch. Antwortet schnell. Ist überzeugt. «Funktionieren so Sekten?», frag ich mich.
Raphi ruft unsere Gruppe immer wieder mal an. Wir haben erst einen Flyer verteilt. Babak hat am Telefon behauptet, es wären schon fünf. Babak hat gelogen.
Das wäre unser Kommunikationskatalog gewesen. Wie gesagt, sind wir gerade ein einziges Mal bis über den dritten Punkt hinausgekommen. «Den Leuten in der Schweiz geht's viel zu gut. Die sind im Tiefschlaf. Lönt sich nöd lo ufwecke», wir trösten uns gegenseitig.
Die Flyer-Aktion ist mir wirklich peinlich. Logischerweise. Ich bin ja nicht davon überzeugt, dass die Rothschild-Familie den ganzen Globus beherrscht. Dass die Antifa von zionistischen Juden finanziert ist, genauso wie die Neonazis. Dass sowohl der rechte Flügel wie auch der linke Flügel am Schluss eben Teile desselben Vogels sind. Dass Politik von rechts nach links eben eh nur da ist, um uns von den eigentlichen, den grossen Themen abzulenken. Der Verarschung, der Verschwörung, dem Zionismus, der Idee, dass die Erde vielleicht doch flach und nicht rund ist. Und dennoch stehe ich daneben, wenn Babak und der andere diese Weltsichten genervten Passanten weis machen wollen.
Ich bin froh, als Raphi uns via Telefon zum Hauptbahnhof zitiert und ich nicht mehr peinlich danebenstehen muss, wenn Babak und der andere ihre Weck-Versuche begehen.
Trotz meiner genierlichen Betroffenheit gehöre ich dazu. Sie akzeptieren das. Ich sei eben nur halbwach, das sei voll okay.
Ich merke indes, wie sich meine Gangart der Gruppe anpasst. Bewege ich mich sonst eher grazil, feminin, färbt die jugendliche Mackerhaftigkeit meiner Sonntagsnachmittagsgang auf mich ab. Ich gehe breitbeinig, lege die Schultern zurück, stelle meine Brust heraus, marschiere so, als hätte ich etwas zu sagen.
Aber ich habe nichts zu sagen. Geradezu eingeschüchtert bin ich von der überwältigten Begeisterung dieser Jungs. Wie sie durch die weihnächtlich glänzenden Einkaufshallen in den Untergeschossen des Zürcher Hauptbahnhofs waten und sich vergewaltigt fühlen von den Lichtern, von der Deko, dem Angebot, dem Konsumzwang.
«Die Matrix, die sehe ich auch», antworte ich Raphael. Ich weiss nicht, ob ich ihm diese Antwort nur aus dem Affekt der ungewöhnlichen Situation heraus um den Mund geschmiert habe oder ob ich in jenem Moment tatsächlich Ansätze eines zentral gesteuerten Herrschaftssystems vor Augen gehabt habe.
Auf jeden Fall kehren wir daraufhin in eins dieser Lokale ein, in denen grosse Fleischbrocken an elektrischen Spiessen drehen. Eine Erschaffung der Matrix, logischerweise. Einer sagt, er habe versucht, zwei Monate lang vegan zu essen. Aber er sei zu süchtig nach all dem Gift, das die in unser Essen schmeissen, sodass er sich nun wieder zu den Omnivoren zählen müsse. Deshalb also: Kebab und Dönerbox für alle.
Ich möchte eigentlich schon lange abhauen. Aber irgendwie mach' ich es nicht. Ich esse Kebab, obschon ich mich sonst vegetarisch ernähre. Ich glaube, mich selbst ein bisschen zu verlieren.
Unser Essen wird von einem Gespräch begleitet, das das Prädikat Diskussion nicht verdient. Denn wenn sich die Jungs, die sich selbst als Systemkritiker ausweisen, unterhalten, dann gibt's nur Zustimmung am Tisch. Begleitet von Lachern, Schulterklopfern und dem Versprechen, dass man den Link dazu, zu den Dokus, zu den Artikeln, aus denen man seine Information bezieht, später dann noch in den gemeinsamen Whatsapp-Chat stellen wird. Klassische Stammtischatmosphäre, denke ich mir im einen Moment, abgefahrene Leidenschaft im anderen.
Sie regen sich auf, dass sie als Verschwörungstheoretiker abgestempelt werden. Das sei manipulativ. Denn jeder wisse, dass Verschöwungstheorie eine Wortschöpfung der CIA ist, die nur erfunden wurde, um Systemkritiker als Verrückte zu denunzieren.
Irgendwie hat das etwas jugendlich Romantisches, dieses Sauersein auf die Obrigkeit. Das ist etwas, das mich rührt. Der Akt, nicht der Inhalt.
Inhaltlich loben sie nämlich Hitler für seine Courage, sich gegen vier Weltmächte aufgelehnt zu haben. Ich nehme meinen ganzen Mut zusammen und widerspreche: Hitler zu loben ist schrecklich, sage ich scheu. Schliesslich hat er einen Genozid angezettelt und heftigsten Rassismus betrieben.
Sie lachen und behaupten, dass dieser Fakt nicht nachgewiesen werden könne. Ich rede ins Gelächter hinein: «Holocaustleugnung ist illegal!». Dann sagen sie: «Siehst du.»
«Jungs, der Tag ist eigentlich voll Kacke. Wir sind sechsundzwanzigtausend Leute, aber nur wir vier sind überzeugt. Du», Raphael wendet sich an mich, «wirst wohl auch kein zweites Mal an unsere Treffen kommen. Ich meine, wir haben dich heute nicht einmal die richtig krassen Dinge inhalieren lassen. Und du bist jetzt schon voll am Ende.»
«Mhm», stimme ich ihm wortlos zu. Meine Schläfen schmerzen und ich denke mir, dass ich auch gern ein Narrativ affirmieren würde, dass mir jegliches Phänomen der westlichen Kultur vom Untergang der Titanic (geplant von Zinonisten) bis zur aktuellen Flüchtlingswelle in einen einzigen Zusammenhang verpackt. Ich bin genauso überfordert mit der Welt wie Raphi und Babak und Co. Ich könnte wirklich jemanden gebrauchen, der mir alles erklärt. Die Wahl von Trump, Russlands Expansionsabsichten, den Syrienkrieg und den Hype um Taylor Swift.
Aber wenn der Preis für eine solches Verständnis der Glaube ist, dass Merkel einen israelischen Pass hat, dass flüchtende Menschen Abfallprodukte der neuen Weltordnung sind und dass irgendwelche Memes auf Instagram mehr Kredibilität als ein Artikel in der Tagespresse haben, dann ist der Zenit der kritischen Weltanschauung um einen ganzen Erdradius (ja, Radius!) überschritten, und wir sind da angekommen, wo's keine Gegenargumente mehr gibt, sondern nur noch Bullshit.
«Es ist, voll okay, wenn du jetzt gehen willst, es ist schon heftig, was du heute alles gehört hast, dessen bin ich mir schon bewusst», sagt Raphi mit seiner rechten Hand auf meiner Schulter.
«Ich glaube nicht, dass du dir all dessen bewusst bist», denke ich mir, sage: «Ja, voll!» und gehe nach Hause.
Da waren's nur noch vier von sechsundzwanzigtausend.
* Alle Namen wurden von der Redaktion geändert.