Kurz vor 15.30 Uhr schauen Andrea und Patrick Huber immer öfters zum Fenster hinaus in ihrem gemütlichen Einfamilienhaus in Sitterdorf. Es ist Ramonas Zeit – dann wird sie mit dem Schulbus nach Hause gebracht, und die Eltern starten ihr Programm: Mutter Andrea richtet ein frisches «Nuscheli», Vater Patrick geht seiner Tochter entgegen und tauscht sich kurz mit dem Schulbusfahrer aus.
Dann tritt Ramona in die Stube und erfüllt den Raum mit ihrem Lachen. Das dunkelhaarige, feingliedrige Mädchen, so gross wie ein 13-jähriger Teenager, so verspielt wie ein Kleinkind, sucht sofort nach der Kartonschachtel mit den Schaumstoffklötzen. «Das ist im Moment ihr liebstes Spielzeug», sagt Andrea Huber. «Und so sieht es aus, wenn sie lange damit gespielt hat.» Die Mutter zeigt auf ein total zerkautes Schaumstoffstück.
Ramona bringt die Klötzchen zum Besuch an den Tisch, leert die Kiste aus, stellt zwei Klötzchen aufeinander. Doch einen Klötzli-Turm bauen, das kann sie nicht. Ihr Interesse ist schnell erloschen. Sie legt sich auf die Couch. Ihre Mutter bindet ihr ein frisches Nuscheli um den Hals, das nasse legt sie zum Trocknen aus. An Ramonas Kinn tropft ständig etwas Speichel. «Wir waschen etwa 30 Nuscheli pro Woche.»
Ramona war ein besonders herziges Kleinkind. «Einmal haben uns im Zug Teenager gefragt, ob sie ein Foto von unserem Mädchen machen dürfen, sie hätten noch nie so ein herziges Kind gesehen», erinnert sich Andrea Huber. Ihr Mädchen lachte besonders viel – doch mit eineinhalb Jahren konnte es weder gehen noch sprechen.
Wir trösteten uns damit, dass sich Kinder halt verschieden schnell entwickeln und sie das schon noch aufholen wird.
Doch Ramona lernte nicht sprechen – bis heute bleiben ihre einzigen beiden Worte «Ja» und «Mama». Als Ramona etwa zwei Jahre alt war, riet die Mütterberatung zu einer Abklärung im Spital Münsterlingen.
Dort sprach man von Entwicklungsverzögerung, den Eltern wurde die Hilfe einer Früherzieherin angeboten, die einmal die Woche zu ihnen nach Hause kam und sich eine Stunde mit dem Mädchen beschäftigte. «Sie sprach damals als erste von einer möglichen Behinderung.»
Mit dreieinhalb Jahren hatte Ramona das erste Mal eine Absenz. «Sie sass am Tisch, die Trinkflasche rutschte ihr aus den Händen, sie war kurz wie weggetreten.» In dieser Zeit besuchte die Mutter einen Vortrag des Kinderarztes Remo Largo und suchte nach dem Referat das Gespräch mit ihm. «Er riet uns, unbedingt Abklärungen im Kinderspital Zürich machen zu lassen.»
Ein EEG, die Aufzeichnung der Gehirn-Aktivität, brachte Klarheit: Das Ärzteteam diagnostizierte ob des auffälligen Verlaufs der Hirnströme schnell das Angelman-Syndrom. Es folgte ein Gentest und eine umfassende Aufklärung der Eltern über diese seltene Genbesonderheit. «Für mich war es fast eine Erleichterung, endlich zu wissen, was los ist und nicht immer nach Ursachen für Ramonas späte Entwicklung suchen zu müssen», sagt Andrea Huber. Der Vater fasste die Diagnose ganz anders auf:
Es war ein Frust, ich war traurig und musste mich damit abfinden, ein behindertes Kind zu haben.
Oft sind es die Sorgenkinder, die den Eltern besonders nahe am Herzen liegen. Bei aller Liebe zu Ramona sagt Patrick Huber aber klar, der Alltag mit so einem Kind sei trotz aller Unterstützung durch die Institutionen anstrengend und oft einfach auch nervenaufreibend.
Als Andrea Huber mit Ramona schwanger wurde, war sie bereits 35 Jahre alt. «Ich machte deshalb einen Fruchtwassertest, um zu erfahren, ob unser Kind gesund ist.» Doch diese Behinderung könne selbst mit einem Gentest nur schwer diagnostiziert werden. Es gebe auch keine genetische Disposition der Eltern für das Angelman-Syndrom.
Ramona bekam nach der Diagnose Epilepsie-Medikamente verordnet gegen ihre Absenzen. Sie besuchte eine heilpädagogische Spielgruppe, es folgte die Einschulung in die «Vivala» in Weinfelden. «Zum Glück ging sie vom ersten Tag an gerne zur Schule.» Nach den strengen Jahren mit der Betreuung rund um die Uhr konnten sich die Eltern, die sich Erwerbs- und Familienarbeit teilen, etwas erholen. Wenigstens tagsüber. Die Nächte bleiben streng.
Angelman-Kinder leiden wegen ihrer mangelhaften Hirnreifung zum Teil unter massiven Schlafstörungen. Auch Ramonas Schlaf ist diffizil. Jahrelang schläft sie nicht durch, nichts hilft. Viele Angelman-Kinder erhalten deshalb Schlafmittel. Ramonas Eltern wollen sie nicht mit Medikamenten zum Schlafen bringen. «Ihr hilft nur die Nähe zu ihrem Mami. Deshalb schlafe ich bei ihr, so geht es am besten», sagt Andrea Huber.
Nie besser geworden ist auch die Prozedur des Zähneputzens. «Das bleibt der Horror. Ramona mag es nicht und wehrt sich.» Nach wie vor könne man Ramona keine Minute unbeobachtet lassen und man müsse sehr konsequent sein – wie bei einem Kleinkind. Kürzlich habe sie sich in einer unbeobachteten Minute mit Nagellack die Lippen angemalt. Auch an die Unordnung, die Ramona überall anrichtet, können sich die Eltern nur schwer gewöhnen – nur Ramona fühlt sich wohl im Chaos.
Wer ein Angelman-Kind hat, muss viel aufräumen und putzen.
Eine grosse Hilfe ist die elfjährige Schwester Sina. Die beiden Mädchen lieben sich und Sina erträgt die täglich tausend Umarmungen ihrer Schwester mit stoischer Ruhe. Gibt es denn auch mal Streit? «Nein, mit Ramona kann man nicht streiten», sagt die kleine grosse Schwester. Es ist Sina, die für die ganze Familie Sonntagsausflüge plant, bei denen für alle etwas dabei ist: Ein Spielplatz für Ramona, etwas Velofahren, «Geocaching» für alle oder einen Tag im Schnee. So wie andere Familien auch.