Manchmal hat man als Sportfan einfach richtig Schwein und kann bei der Geburtsstunde eines späteren Superstars dabei sein. Im Herbst 2015 besuchte ich das College-Football-Spiel zwischen Texas A&M und den South Carolina Gamecocks. Die Texaner waren mit ihrem bisherigen Quarterback unzufrieden und gaben einem Freshman eine Chance: Kyler Murray.
Mit 18 Jahren überzeugte er bei seinem Debüt als Spielmacher. Dank 156 Rushing Yards und 223 Passing Yards führte Murray die «Aggies» zum Heimsieg.
Es war eine erste Kostprobe seines grossen Talents und weitere liess Kyler Murray in den Jahren danach folgen. Dabei verschenkte er 2016 eine Saison, weil er wegen seines Übertritts zur University of Oklahoma nicht spielberechtigt war. In den Great Plains spielte der schnelle Spielmacher dann ab 2017 nicht mehr nur Football, sondern auch Baseball. Auch dafür besitzt Murray grosses Talent: Die Oakland Athletics zogen ihn im vergangenen Juni beim Draft der Major League Baseball bereits an neunter Stelle als Outfielder.
Murray unterzeichnete in Oakland einen Vertrag, alleine für die Unterschrift kassierte er 4,66 Millionen Dollar. Die Baseball-Karriere schien vorgezeichnet. Aber die A's erlaubten Murray noch eine letzte Saison beim College Football – und in dieser spielte er phänomenal. So gut, dass Murray im Dezember 2018 mit der Heisman Trophy zum besten College-Spieler im Land ausgezeichnet wurde, auch die US-Sportjournalisten wählten ihn zum Spieler des Jahres.
Was also tun: Baseball oder doch Football? Kyler Murray traf eine erste Entscheidung und meldete sich für den NFL-Draft an. Dieser ist Ende April in Nashville. Aus finanziellen Gründen müsste er sich für eine Karriere als Footballer entscheiden, denn dort gibt es noch mehr zu verdienen.
Die grosse Frage ist aber, ob sich Murray auch tatsächlich in der NFL durchsetzen kann. Denn sein Handicap ist die vergleichsweise geringe Körpergrösse von 1,78 m. Star-Quarterback Tom Brady beispielsweise misst 1,93 m, der Shootingstar Patrick Mahomes ist fast so gross. Dennoch ist ein Erstrunden-Draft möglich. Falls sich ein Team dazu entscheidet, seine gesamte Offensive auf Kyler Murray auszurichten und das Team entsprechend seinen Fähigkeiten anzupassen. Etwa so, wie beim FC Barcelona das Spiel komplett auf Lionel Messi ausgerichtet ist.
Zuletzt betonte Jon Gruden, der Headcoach der Oakland Raiders, dass die Körpergrösse für ihn nicht mehr entscheidend sei. «Früher hatte ich meine klaren Vorstellungen davon, wie ein Quarterback gebaut sein muss. Ich habe alle davon beiseite gelegt. Heute kommen sie in allen Formen und Grössen daher», sagte Gruden.
Dass Kyler Murray beide Sportarten gleichzeitig ausübt, gilt wegen seiner Position als Quarterback als ausgeschlossen. Der 21-Jährige, dessen Vater im College ebenfalls Quarterback war und dessen Onkel in der MLB spielte, ist in der komfortablen Situation, dass er «Figgi und Müli» hat. Falls ihn ein NFL-Team draftet, das ihm nicht passt, kann er sich immer noch für Baseball entscheiden. Ein NFL-Angebot erhöht zudem den Druck auf die Oakland Athletics, ihm einen Vertrag direkt für die MLB anzubieten, ohne dass er den üblichen Weg über das Farmteam einschlagen muss.