Die Los Angeles Rams sind jung, wild und mit beneidenswertem Talent gesegnet. Sie tragen ihre Spiele übergangsweise im Memorial Coliseum aus, einem völlig aus der Zeit gefallenen, fast subversiven Stadion. Sie haben den jüngsten Coach der Liga, Sean McVay, 33 erst. Kurz: Sie sind das coolste Team in einer gar nicht mal so coolen Liga
Rassismus, Schiedsrichterkrise, immense Gesundheitsrisiken, skandalbehaftete Profis und ein überhebliches Management – all das wird am Sonntag ausgeblendet. Dann zählt nur noch der Super Bowl. Diese Zelebration des Gigantismus, die grösste eintägige Sportveranstaltung des Planeten. In Atlanta greifen die Rams gegen die New England Patriots nach dem Titel. Es wäre die Krönung einer ebenso rasanten wie erstaunlichen Entwicklung.
Die Rams spielten von 1946 bis 1994 in Los Angeles, sie taten das mit überschaubarem Erfolg. In der 1967 gestarteten Super-Bowl-Ära gewannen sie: nichts. Das Team wurde nach St. Louis verpflanzt, gewann dort 1999 prompt den Titel, ehe elf Jahre in Serie ohne Playoff-Qualifikation folgten, sodass die Rams, in der Liga inzwischen fast bemitleidet, erneut zu neuen Ufern aufbrachen.
2016 kehrten sie nach Los Angeles zurück, weil die Steuerzahler in St. Louis verständlicherweise wenig Lust hatten, dem Milliardär Stan Kroenke ein neues Stadion zu bezahlen. Kroenke, dem auch das Premier-League-Team Arsenal gehört, baut nun in Inglewood – eine 4,9 Milliarden Dollar teure Arena, die grösser ist als Disneyland und ab 2020 auch die Los Angeles Chargers beheimaten wird.
Meanwhile in Los Angeles... 😍 pic.twitter.com/SSJsBB4tJm
— Los Angeles Rams (@RamsNFL) 31. Januar 2019
Zu diesem Premiumstadion passt ein Premiumteam. Auch wenn der Start der Rams in Los Angeles nicht gelang. Die hoch angesehene «Los Angeles Times» fragte nach der ersten Partie, einem 0:27 gegen die San Francisco 49ers, ob es nicht möglich sei, die Rams nach St. Louis zu retournieren. Und das, nachdem die Stadt während über zwei Jahrzehnten kein Team mehr in der wichtigsten Liga des Landes gestellt hatte und die Sehnsucht gross war.
Die Rams blieben standhaft. 2017 wurde mit McVay ein neuer Trainer engagiert. Ein unbeschriebenes Blatt, ein Mann ohne Erfahrung als Headcoach. Der Wunderknabe sorgte für ein Frühlingserwachen in der Offensive, führte das Team auf Anhieb in die Playoffs und entpuppte sich als Trendsetter: Quer durch die Liga fahnden Besitzer nun nach jungen Trainern mit Offensivgeist, die NFL erlebte in dieser Saison eine offensive Revolution, es hagelte Touchdowns und Rekorde. McVay gilt dabei als Prototyp des Idealtrainers und es erhöht die Chancen eines Bewerbers, wenn er eine Verbindung zu ihm nachweisen kann: Bei den Green Bay Packers und den Cincinnati Bengals sind gerade Mitarbeiter McVays zum neuen Cheftrainer ernannt worden.
Das ehrt den Trainer, doch zunächst steht er vor seiner grossen Reifeprüfung: Er muss den schelmischen Altmeister Bill Belichick, doppelt so alt wie er, auscoachen. Es ist eine Aufgabe, die bis jetzt kaum jemandem gelungen ist. Die Rams sind der Aussenseiter, sie haben den Final nur dank eines gestohlenen Siegs erreicht, ermöglicht durch einen spektakulären Fehlentscheid der Schiedsrichter im Duell gegen die New Orleans Saints.
Los Angeles verfügt zwar über das talentiertere und jüngere Team als die Patriots, aber es mangelt dem Kollektiv an Erfahrung. Nur drei Rams-Spieler haben den Super Bowl bereits gewonnen – alleine Tom Brady, Star-Quarterback der Patriots, hat fünf Titel im Palmarès. McVay ist der grosse Wurf zuzutrauen, er ist bekannt dafür, gerne auf risikoreiche Taschenspielertricks zurückzugreifen, um seine Schützlinge wachzurütteln; das Selbstvertrauen des Trainers hat sich längst auf die Spieler übertragen.
McVays Leitsatz lautet «Us not me». «Wir statt ich». Er lebt das vor – unter ihm hat sich die Kultur teamintern verändert. Die Rams befinden sich in einer komfortablen Ausgangslage, das Gros des Kaders ist jung und langfristig gebunden. Am Sonntag wird die Frage beantwortet werden, ob den Rams nicht nur die Zukunft, sondern auch die Gegenwart gehört.