Als sich hunderte Strassburger 1518 plötzlich zu Tode tanzten
Die Julisonne strahlt heiss und grell auf ein Grüppchen von tanzenden Menschen nieder. Sie schwitzen, drehen sich wild im Kreise, hüpfen vom einen Bein aufs andere. Manche schreien sogar. Ihre Glieder zucken, als führten sie ein krampfartiges Eigenleben. Ihre Augen sind dunstig und verklärt, während ihr Blick nicht mehr der Welt, sondern dem Himmel gilt.
Die Ratsherren von Strassburg vermochten es nicht, diesem rätselhaften Treiben ein Ende zu bereiten. In ihrer Verzweiflung baten sie die Ärzte um Rat. Man solle den Tanzwütigen eine Bühne auf dem Pferdemarkt errichten und ihren zügellosen Reigen nur wacker von Pfeifen, Trommeln, Geigen und Hörnern begleiten lassen, meinten diese. Auf diese Weise würden die Choreomanen bald schon mit dem Wahnwitz aufhören.
Die Ärzte sollten sich irren. Das «überhitzte Blut», das sie für die Ursache der Krankheit hielten, kühlte sich nicht ab. Die Leute tanzten die liederliche Plage nicht aus ihren Körpern hinaus, sondern gerieten nur immer tiefer in sie hinein.
Anfangs war da nur Madame Troffea gewesen. Am 15. Juli 1518 trat sie auf das schmale Pflastersträsschen vor ihrem Haus und begann plötzlich damit, sich wie unter Zwang ganz sonderbar zu verrenken.
Erst lachte man über sie, doch bald schon schlossen sich ihr andere an, sodass die Tanzwütigen bereits nach dem dritten Tage 34 zählten und Ende August schon 400. Hauptsächlich waren es Weiber, die solchermassen tobten wie die Irren, dass ihnen der Schaum vor den Mund trat und ihre Füsse bluteten. Sie tranken, assen und schliefen nicht mehr, bis sie vor Erschöpfung niedersanken – manch eine für die Ewigkeit. 15 pro Tag sollen sich laut der Strassburger Chronik des elsässischen Festungsbaumeisters Specklin ins Jenseits getanzt haben.
Zu tanzen und zu springen, Fraw und Mann,
Am offenen Markt, Gassen und Strassen,
Tag und Nacht ihrer viel nicht assen,
Bis ihn‘ das Wüthen wieder gelag.
St. Veits Tanz ward genannt die Plag.»
Bald schon wurde die Bühne wieder abgebaut und die Musiker entlassen, denn das ganze Spektakel hatte nur die Verbreitung dieser garstigen Tanzpest zur Folge gehabt.
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Der Strassburger Rat verbot daraufhin das Tanzen in der ganzen Stadt und ordnete an, die kranke Truppe zum Schrein des Heiligen Veit zu bringen, dem Schutzheiligen der Fall- und Tanzsüchtigen, an dessen Stätte schon in den vorangegangenen Jahrhunderten ein paar jener armen Seelen geheilt worden seien.
Schliesslich war der Heilige Veit ein Märtyrer, ein Wundertäter, den Kaiser Diokletian der alten Legende zufolge den Löwen zum Frass vorgeworfen habe, als er nicht den heidnischen Göttern opfern wollte. Doch die Löwen leckten ihm nur die Füsse und auch das siedende Öl, in das man ihn hernach warf, habe ihm nichts anhaben können – Engel erretteten ihn daraus.
Die Kapelle des Heiligen stand nahe der niederelsässischen Stadt Saverne, wohin nun die Tanzwütigen geführt wurden. Man las ihnen die Messe, dann erhielt jeder ein Paar roter Schuhe, um damit vor die Holzfigur des Wundertäters zu treten.
Und in der Tat, sobald die Kranken den Schrein betraten, gaben sie die Tanzerei augenblicklich auf. Keiner von ihnen mochte sich an die vergangenen Tage und Wochen erinnern. Einzig ihre geschwollenen und wund getanzten Füsse zeugten von ihrem traumversunkenen Kampf.
Es wird überliefert, dass es bereits im 14. und 15. Jahrhundert im Gebiet um die Flüsse Rhein, Mosel und Maas vereinzelt zur «Tanzwut» gekommen sein soll. Menschengruppen tanzten ohne erkennbare Ursache so lange, bis sie in Ekstase verfielen und nach einigen Tagen vor Erschöpfung zusammenbrachen oder gar starben.
Bezeichnung
Im Mittelalter bezeichnete man dieses massenhysterische Phänomen als «Veitstanz» – benannt nach dem oben beschriebenen heiligen Veit, dem Schutzpatron der Tänzer, der auch in Fällen von Krämpfen, Epilepsie (Fallsucht), Tollwut und beim besagten Veitstanz angerufen wird.
Heute werden u.a. die Symptome (unwillkürliche, unkoordinierte Bewegungen) der erblichen Krankheit Chorea Huntington als «grosser Veitstanz» oder «Chorea major» bezeichnet.
Medizinische und kulturanthropologische Theorien
Was genau hinter der ominösen Tanzwut steckt, weiss man bis heute nicht genau.
Krankheiten wie Epilepsie, Gehirnentzündung, Chorea Huntington, etc. wurden als Auslöser durch die Jahrhunderte vermutet, allerdings sind dies alle individuelle, nicht ansteckende Krankheiten, die den epidemisch-psychogenen Charakter der beschriebenen Tanzwut nicht erklären.
Paracelsus (1493/94-1541) zweifelte hingegen das ganze Phänomen grundlegend an. Er vermutete vielmehr, dass es sich um massenhafte sexuelle Ausschweifungen handle, weshalb er vorschlug, die Ereignisse als «chorea lasciva» zu bezeichnen.
Eine Vergiftung durch den Mutterkorn-Pilz wurde ebenfalls angenommen. Dieser befällt Nahrungs- und Futtergetreide wie Roggen und ist für Mensch und Vieh stark toxisch. Er kann Halluzinationen und Krämpfe auslösen. In Zeiten von schlechten Ernten und Hungersnöten, die im 16. Jahrhundert häufiger vorkamen, assen die Menschen in ihrer Not auch verschimmeltes Getreide. Der Historiker John Waller hat diese Hypothese in seinem Buch «A Time to Dance, a Time to Die. The Extraordinary Story of the Dancing Plague of 1518» (2008) dadurch widerlegt, dass eine solche Vergiftung auch die Durchblutung der Extremitäten einschränkt und so das tagelange und pausenlose Tanzen verunmöglicht.
Seiner Theorie zufolge ist der heilige Veit der Verursacher der Tanzwut, denn in den abergläubischen Köpfen der Menschen konnte dieser sie nicht nur von der Tanzwut erlösen, sondern sie auch damit strafen. Waller spricht vom «St. Vitus curse», der beim einfachen Volk wie eine sich selbsterfüllende Prophezeiung wirkte.
2013 stellte der Historiker Gregor Rohmann in seiner Studie «Tanzwut» eine kulturanthropologische These auf: Sie sei nicht durch Hysterie oder Halluzinationen ausgelöst worden, sondern stelle den Versuch dar, das Gefühl der Gottesverlassenheit durch Tanzen loszuwerden. Wer mehr zu seiner Theorie lesen will, den verweisen wir an dieser Stelle auf den Wikipedia-Artikel zur Tanzwut.