Napoleons 475'000 Mann starke Grande Armée beeindruckte Zar Alexander wenig. Und so kehrte der Gesandte Louis de Narbonne im Mai 1812 mit nichts mehr als der eisernen russischen Entschlossenheit zurück zu seinem Kaiser, der daraufhin ausrief: «So sind also alle Vermittlungsvorschläge am Ende angelangt! Der Geist, der im russischen Lager herrscht, treibt uns in den Krieg!»
Doch ehe er diesen begann, nahm Napoleon Quartier im Schloss Bayreuth. Ganz geheuer war ihm dies allerdings nicht. Darum schickte er seinen Kurier voraus, er möge veranlassen, dass dem Kaiser nur solche Gemächer zugewiesen würden, die vor der Weissen Frau sicher seien.
Er fürchtete sich vor der schauerlichen Erscheinung, die in einen weissen Nonnenschleier gehüllt um Mitternacht durch die Schlossgemäuer geisterte.
Erstmals gesehen hatte man die Weisse Frau am 11. März 1486. Auf eben diesem Schlosse erspähte ein Wachtposten das weisslich schimmernde Gespenst, wie es auf den Zinnen herumspukte. Zwei Jahre später trieb es sein Unwesen auch in der Plassenburg bei Kulmbach. Dort allerdings hörte man auch Stimmen, die sagten, es habe sich dabei um das Fräulein Rosenau gehandelt. Sie habe sich in solcher Gewandung klammheimlich in die Räumlichkeiten ihres Geliebten zu stehlen versucht.
Die Gelehrten aber glaubten, dass es sich bei der Weissen Frau um Kunigunde von Orlamünde handelte, die einstige Burgherrin der Plassenburg. Ihr Mann Otto war bereits gestorben, als sie sich unsterblich in den Nürnberger Burggrafen Albrecht den Schönen verliebte. Doch dieser wies sie zurück mit den Worten: «Vier Augen stehen unserer Vereinigung im Wege!»
Es mussten die Augen ihrer beiden Kinder sein, dachte die Unglückliche – und stiess in ihrem Liebeswahn eine Nadel in ihre kleinen Köpfe.
«Und dacht, die Kindlein, die ich hätt'
Werden gewiss die Augen sein,
die mich berauben des Buhlen mein!
Und wurd' das Weib so gar bethört,
Dass sie ihre eigen Kinder ermördt,
Und jämmerlich ihres Lebens beraubt,
Dass sie es mit Nadeln in ihr Haubt
Stach in ihre Hirnschall,
Die zart und weich überall.»
Klosterchronik des Pfarrers Johann Löer, 1559
Doch der Burggraf hatte mit den vier Augen seine Eltern gemeint, die, so wusste er, einer Verbindung mit Kunigunde niemals zugestimmt hätten. Nun war es zu spät. Und Albrecht wollte von der Kindsmörderin nichts mehr wissen.
Niedergedrückt von ihrer schweren Sünde pilgerte die Gräfin nach Rom in der Hoffnung, der Papst würde ihre Seele reinigen und ihr die Schreckenstat vergeben. Und tatsächlich liess der Vater Erbarmen walten. Er trug der reuigen Tochter auf, ein Kloster zu gründen. Auf Knien rutschte sie daraufhin von der Plassenburg bis ins Tal von Berneck, wo sie das Kloster Himmelthron gründete. Dort starb sie als Äbtissin im Jahre 1382.
Selige Ruhe schien sie aber keine gefunden zu haben. Denn fortan geisterte Kunigunde rastlos durch die Schlösser der deutschen Lande.
Im Jahre 1544 zerstörte der Hohenzoller Markgraf Georg Friedrich I. die Plassenburg, um sie nach dem Wiederaufbau in Besitz zu nehmen. Dies erzürnte die Tote in solcher Weise, dass sie ihrer gewöhnlichen Friedlichkeit verlustig ging. Sie rasselte mit den Ketten und tobte wild in allen Gemächern, wirbelte Stühle herum und erschreckte die Hoffräuleins. Den Koch des Markgrafen würgte sie gar bis ins Jenseits. Noch in derselben Nacht floh Georg Friedrich eilends aus der Burg und kehrte niemals wieder.
Die Bewohner suchten in ihrer Verzweiflung nach dem Grab der zwei ermordeten Kinder. Vielleicht vermag eine nachträgliche feierliche Bestattung den Geist ihrer Mutter zu beruhigen, hofften sie. Doch sie fanden nichts.
Dann beehrte die Weisse Frau das Residenzschloss der Hohenzollern in Berlin. Sie erschien den Brandenburger Kurfürsten Johann Georg (1598) und Friedrich Wilhelm (1688), die beide kurz danach starben.
Die besonders Tapferen machten zu dieser Zeit Jagd auf das Gespenst. Ein Vertrauter Friedrich Wilhelms begegnete ihm auf der Treppe und beschimpfte es mit den Worten:
Die Weisse Frau stiess ihn die Treppe hinunter, sodass sich der Mann zahlreiche Knochen brach.
1709 fand man bei Bauarbeiten am Schloss ein weibliches Skelett. Schon jubelte alles, man glaubte, mit einer ordentlichen Bestattung desselben werde man dem Spuk ein Ende setzen. Doch dem war nicht so.
Schon drei Jahre später tauchte die Ruhelose wieder auf. Dieses Mal am Totenbette des ersten Preussenkönigs – mit Leuchter und Altarkreuz. Vielleicht wollte sie den Monarchen zu letzter Busse ermahnen. In dessen enger Brust nämlich war wenig Platz für Gott und alles, was mit ihm zusammenhing.
Als Napoleon am besagten 14. Mai 1812 mit weichen Knien die Bayreuther Eremitage betrat, hing dort ein stark nachgedunkeltes Frauenporträt der Weissen Frau. Ihr kleiner Kopf drohte darauf in einer Halskrause zu verschwinden. Mit ihren grossen, von fürchterlichen Geheimnissen verdüsterten Augen musste sie ihn angestarrt haben, fast so, als wundere sie sich über seine Anwesenheit.
Napoleon kannte die Geschichten von der spukhaften Erscheinung. Und als er sich in dieser Nacht unruhig in seinem Bett wälzte, stieg auf dem Gange die Weisse Frau langsam aus ihrem Rahmen, betrat auf ihren Geisterfüsschen sein Zimmer und schritt geradewegs auf ihn zu. Entsetzt fuhr der Kaiser auf und rief nach seinem Adjutanten.
Man erzählt sich, dass er bis an sein Lebensende mit Entrüstung von diesem «maudit château» gesprochen habe.
Die Weisse Frau hatte also auch Napoleon den baldigen Untergang prophezeit. Nur seltsam, dass man 1822 im Nachlass des Schlosskastellans ein langes weisses Frauenkleid fand.