Hans brauchte keine Zügel. Er schätzte ganz allein ab, wie er mit dem Wagen am besten eine Einfahrt passieren konnte. Dieser Hengst war klug, zu eigenständigen Überlegungen und Gedanken fähig, dachte sich darob sein auf dem Kutschbock sitzender Besitzer – und begann, ihn zu trainieren.
Als ehemaliger Mathematiklehrer war Wilhelm von Osten von seinen didaktischen Fähigkeiten restlos überzeugt. Und an diesem Glauben schien er auch festzuhalten, nachdem man den 28-jährigen, zum Jähzorn neigenden Zuchtmeister, als untauglich eingestuft und freigestellt hatte. Die Schneise, die er bis dahin mit seinem Rohrstock durch die Klassenzimmer von Siegen, Holzminden, Lyck, Lemgo und Barmen geprügelt hatte, schien selbst für preussische Verhältnisse allzu breit zu sein.
Und so kaufte sich von Osten 1866 mit dem Geld seines Vaters das Haus in der Griebenowstrasse 10 am Prenzlauer Berg in Berlin, wo er fortan als schroffer Hausherr residierte und bald damit begann, sein Pferd im Lesen und Rechnen zu unterweisen. Sicher, so dachte der Unerschütterliche, würden seine meisterlichen Lehrmethoden auch an Tieren ihre wundersame Wirkung entfalten.
Doch Hans zählte mit seinen Hufen auf den Boden stampfend nur bis fünf, dann starb er an Darmverschlingung. Seinen Schädel bewahrte von Osten auf. Dessen bemerkenswerte Stirnwölbung war für ihn als Anhänger der Gallschen Phrenologie ein Zeichen von Hansens vorzüglicher Verstandesausprägung.
Sein Vorhaben aber begrub der Mann nicht. 1900 reiste er nach Russland, wo er einen fünfjährigen Orlow-Traber erwarb. Ein schwanenhalsiges, edelblütiges Pferd, ein kräftiger Nachfahre jener ersten gelungenen Kreuzung zwischen einem Araberhengst und einer dänischen Stute, die aus den Zuchtbemühungen des ehemaligen Geliebten Katharinas der Grossen, Grigorij Orlows, entsprungen war.
Von Osten nannte ihn Hans II.
Doch bald schon würde dieser Hengst die Zwei von seinem Rücken schütteln. Er war eine Nummer eins, die Nummer eins. Das erste Pferd, das die Welt mit seinem rechnerischen Talent in helles Staunen versetzen würde.
Bald schon würden Zoologen, Psychologen, Ärzte, Physiologen, Neuropsychiater und Veterinärmediziner, ja ganze Expertenkommissionen nach jenem prosaisch gepflasterten Hinterhof im Norden Berlins pilgern, und sich dort, zwischen den kleinen schäbigen Zinnhäusern, all ihrer Zweifel über die erstaunlichen Fähigkeiten des Klugen Hans entledigen.
Bald schon würden sie laut applaudieren, manch einer würde sich gar hastig eine Träne aus dem Auge wischen, um nicht erwischt zu werden bei der Rührung, die ihn erfasste über den schliesslich wahr gewordenen Traum einer so tief gehenden Verständigung zwischen Mensch und Tier. «Auch den animalischen Geschöpfen muss eine Seele innewohnen!», so würden ihre Herzen dann schreien, «und sie ist der unseren wesensgleich!»
Bevor jedoch jenes Frohlocken von den Mauern der Nachbarshöfe widerhallte, musste von Osten seinen Hans erst klug machen.
Er kniete sich Tag für Tag neben ihn aufs Hofpflaster, hob dessen rechten Vorderhuf an, setzte ihn wieder ab und zählte dazu, auf einen Kegel am Boden zeigend: eins. Nach einer Woche waren sie bereits bei zwei, am Jahresende zählte Hans bereits bis fünfzehn. Dann folgte die Addition.
Von Osten war streng mit Hans. Sehr streng:
«Die Wiederholungen gingen ins Endlose und minderten die an und für sich nicht allzu starke Arbeitslust des Tieres, dessen Willen sich von Osten dadurch zu unterwerfen suchte, dass er eine falsch gezählte Zahl zur Strafe zwanzig bis dreissig Mal hintereinander wiederholen liess. Es kam vor, dass am Schlusse das geistig und körperlich ermüdete Tier törichterweise noch zu etwa 700 Klopftritten gezwungen wurde.»
Karl Krall, von Ostens späterer Schüler
Die Quelle von Hansens gelegentlichem Lernversagen war wohl kaum das Teppichklopfen der Hausmieterin Piehl, nicht die Leierkästen oder das Strassenbahngeklingel, es war die allzu rabiate Methode des Herrn von Osten selbst. Der schnell in Raserei zu versetzende Sonderling wetterte bei jedem Rechenfehler lauthals auf das empfindsame Tier ein.
1902 schien der Zuchtmeister mit Hansens Können soweit zufrieden, dass er es mit der Öffentlichkeit zu teilen gedachte.
Nur leider interessierte sich diese nicht dafür. Auch nicht, nachdem er eine Anzeige im «Militärwochenblatt» aufgegeben hatte, in der er mit dem vorgespielten Verkauf seines Klugen Hans Interessenten und Schaulustige anzulocken gedachte:
«Meinen 7-jährigen schönen, lammfrommen Hengst, mit welchem ich Versuche zur Feststellung des geistigen Könnens des Pferdes mache, will ich verkaufen. Er unterscheidet zehn Farben, liest, kennt die vier Rechnungsarten u. a. m. von Osten, Berlin, Griebenowstraße 10.»
Doch niemand kam, um sich vom wundersamen Talent des Pferdes zu überzeugen. Erst die zweite Annonce im «Deutschen Offiziersblatt» lockte Generalmajor Eugen Zobel in Hansens Stall.
Dann endlich begann die Fangemeinde des Hengstes anzuwachsen. Sein Publikum bestand aus Offizieren der Berliner Garnisonen und aus dem Westen der Stadt herststöckelnden Damen. Auch der italienische Maler Emilio Rendich reihte sich stets in die vordersten Ränge ein, während der Afrikaforscher und Grosswildjäger Carl Georg Schillings erst alles für ausgemachten «Blödsinn und Schwindel» hielt, nach einer Kostprobe von Hansens Fähigkeiten aber stracks zum glühendsten Verehrer des Tiers konvertierte und fortan gleich selbst einige der Vorführungen in jenem immer volkreicher werdenden Hinterhof übernahm.
Am 12. August 1904 sah sich Hans bereits Preussens Kultusminister Dr. Studt gegenüber.
«Der Hengst löste eine Aufgabe, die Minister Studt mit Bleistift auf Papier geschrieben hatte; ergab bei Brüchen Zähler und Nenner (die Aufgaben wurden ihm schriftlich gezeigt) an, konnte zuzählen und abziehen ... Der Minister nahm verschiedene Stöcke und Schirme in die Hand, und das Pferd gab genau an, wieviel Stöcke und wieviel Schirme er hatte. Ferner stellte sich der Minister mit fünf anderen Herren in eine Reihe. Das Pferd sagte, wie viele Herren vor ihm standen, wie viele Strohhüte trugen, der wievielte Herr der grösste war (bei dieser Frage musste ein Assessor zurücktreten, der ebenso gross war wie der Minister, weshalb das Tier schwieg) und ebenso der kleinste.»
«Neue Preussische»
In der «Staatsbürger-Zeitung» war zu lesen, dass der Kluge Hans gar fähig war, die Geburtstage des Kaiserpaares und des Kronprinzen anzugeben und ebenso wusste, an welchem Tage genau Weihnachten gefeiert werde.
Kulturminister Studt verliess den Ort des Geschehens voll «höchster Bewunderung» für den Klugen Hans, und es dauerte nicht lange, bis endlich auch Wilhelm II. seine Flügeladjudanten von Moltke und von Scholl in die Griebenowstrasse schickte. Der Komponist Richard Strauss liess sich des Hengstes absolutes Gehör und sein 15 Lieder umfassendes Repertoire vorführen, und selbst die «New York Times» berichtete über das gelehrige Pferd, das bald einer Expertenkommission vorgestellt werden sollte, damit man seinem verblüffenden Können auf den Grund gehen konnte.
Endlich waren von Ostens Bemühungen vom erwünschten Erfolg gekrönt. Denn der Rummel allein reichte ihm nicht. Er war getrieben vom Wunsch nach wissenschaftlicher Anerkennung seiner mirakulösen didaktischen Arbeit.
Eine Sachverständigenkommission bestehend aus dreizehn hervorragenden Fachleuten – darunter Mitglieder der Preussischen Akademie der Wissenschaften und Professoren der Universität Berlin – wurden nun mit dem Fall des Klugen Hans betraut. Sie unterzogen den Hengst harten Prüfungen, die er in Abwesenheit seines Herrn fast ebenso gut bestand, wie wenn dieser vor Ort war.
Am 12. September 1904 kamen die Herren in ihrem Gutachten zum Schluss, dass in der Sache keinerlei Täuschung vorliege. Es konnten keine Dressurtricks und auch keine anderweitige Zeichengebungen ausgemacht werden.
Dann aber verlor ausgerechnet ein Hans-Bewunderer der allerersten Stunde seinen Glauben: Der Maler Rendich hatte seinerseits damit begonnen, seine Schäferhündin Nora abzurichten. Mittels feinster Kopfbewegungen brachte er ihr Kunststücke bei, wie sie Hans zu vollführen verstand.
Er zeigte die angeblich rechnende Nora dem Vorsitzenden der Kommission, dem Psychologie-Professor Stumpf und dessen Assistenten Oskar Pfungst. Und nun machte sich Letzterer daran, Rendichs Theorie zu untersuchen.
Und tatsächlich stellte sich heraus, dass das Pferd versagt,
«wenn die Lösung der gestellten Aufgabe keinem der Anwesenden bekannt ist, beispielsweise wenn ihm geschriebene Ziffern oder zu zählende Gegenstände so dargeboten werden, dass sie den Anwesenden, vornehmlich dem Fragesteller, unsichtbar bleiben. Es kann also nicht zählen, lesen und rechnen.
Es versagt ferner, wenn es durch genügend grosse Scheuklappen verhindert wird, die Personen, denen die Lösung der Aufgabe bekannt ist, vornehmlich den Fragesteller, zu sehen. Es bedarf also optischer Hilfen.
Diese Hilfen brauchen aber–- und hierin besteht das Eigentümliche und Interessante des Falles – nicht absichtlich gegeben zu werden.
Diesen Tatsachen entspricht, soviel ich sehe, nur folgende Vorstellung von der Sache. Das Pferd muss im Laufe des langen Rechenunterrichts gelernt haben, während seines Tretens immer genauer die kleinen Veränderungen der Körperhaltung, mit denen der Lehrer unbewusst die Ergebnisse seines Denkens begleitet, zu beachten und als Schlusszeichen zu benutzen. Die Triebfeder für diese Richtung und Anstrengung seiner Aufmerksamkeit war der regelmässige Lohn in Gestalt von Mohrrüben und Brot. Diese unerwartete Art von selbstständiger Bestätigung und die so erlangte Sicherheit in der Wahrnehmung kleinster Bewegungen bleiben erstaunlich.
Die Bewegungen, die das Tier zu seinen Reaktionen veranlassen, sind bei Herrn von Osten so minimal, dass es sich begreift, wie sie selbst routinierten Beobachtern entgehen konnten. Herrn Pfungst, dessen Beobachtungsfähigkeit durch Laboratoriumsversuche über kürzeste Gesichtseindrücke geschärft ist, ist es aber gelungen, an Herrn von Osten direkt die verschiedenen Bewegungsarten zu erkennen, die den einzelnen Leistungen des Pferdes zugrunde liegen, darauf sein eigenes, bis dahin unbewusstes Verhalten zu dem Pferde zu kontrollieren, und endlich diese seine unabsichtlichen in absichtliche Bewegungen zu verwandeln. Er kann nun die sämtlichen Äusserungsformen des Pferdes auch willkürlich durch entsprechende Bewegungen zur Erscheinung bringen, ohne überhaupt die bezügliche Frage oder den Befehl auszusprechen. Derselbe Erfolg tritt aber auch ein, wenn Herr Pfungst sich nicht vornimmt, die Bewegungen zu machen, sondern nur die gewollte Zahl so intensiv wie möglich sich vorstellt, weil eben die erforderliche Bewegung bei ihm dann von selbst auftritt.»
Der Falls war also klar. Hans reagierte auf kleinste Regungen der ihn umgebenden Menschen, er war des Rechnens nicht fähig. Die Blamage, die die Wissenschaftler mit ihrem ersten Gutachten erlitten hatten, jene bodenlose Forschernaivität, die sich darin so unverfroren zeigte, wuchs sich daraufhin zu einem regelrechten Trauma für die Tierpsychologie aus. Man verdrängte die ganze Sache so ordentlich, dass dabei die eigentlich erstaunenswerte Fähigkeit des Pferdes ganz vergessen ging: Hans mochte nicht im eigentlichen Sinne lesen können, doch er las den Menschen. Und sogar besser als die Wissenschaftler sich selbst zu lesen verstanden.
Heini Hediger, der Schweizer Zoologe und ehemalige Direktor des Zoo Zürich, formulierte diesen Umstand so:
Der Kluge-Hans-Effekt, wie man fortan die unbewusste menschliche Beeinflussung des Verhaltens von Versuchstieren zu nennen pflegte, wurde tunlichst vermieden, auch in Versuchsanordnungen mit Menschen.
Um Manipulationen durch unwillkürliche Zeichengebung jeglicher Art auszuschliessen, werden heutige Experimente in der Wahrnehmungs-, Kognitions- und Sozialpsychologie zumeist doppelblind durchgeführt. Oder der Versuchsleiter wird gleich durch einen Computer ersetzt.
Von alledem wollte allerdings einer nichts wissen: Wilhelm von Osten. Als jene wissenschaftlichen Tatsachen sein Weltbild zu bedrohen begannen, leugnete er sie. In seiner Vorstellung war Hans weiterhin eines aussergewöhnlichen, selbstständigen Denkens fähig, davon konnte ihn keine Menschenseele abbringen. Die Untersuchungskommission musste sein Pferd heimlich umdressiert und damit die Ergebnisse verfälscht haben.
Seine Wirklichkeit war eben eine andere. Sie musste es sein. Und wer vermag am Ende schon zu sagen, welcher Mann verrückter ist: derjenige, der eine (Selbst-)Täuschung weiterhin aufrecht erhält oder derjenige, der es zulässt, dass sein ganzes Lebenswerk seines Sinnes enthoben wird?
Von Osten zu Hilfe eilte nun der Juwelier Karl Krall, der die Entwicklung des Klugen Hans bis anhin nur aus der Ferne verfolgt hatte. Jetzt aber bot er dem niedergeschlagenen Pferdetrainer an, auf eigene Kosten eine Falsifizierung zu wagen.
Gemeinsam machten sie weitere Experimente mit Hans, durch Scheuklappen sollte die unwillkürliche Zeichengebung fortan verhindert werden. Gemäss Krall habe Hans bald auch ohne Sichtkontakt zum Fragesteller die richtigen Antworten zu geben gewusst.
Doch die Ergebnisse interessierten die Welt nicht mehr. Der Fall war abgeschlossen, die Wissenschaft hatte darob bereits ihr Gesicht verloren. Niemand wollte sich an jenem unheilvollen Pferd noch einmal die Finger verbrennen.
Indes begann der Krebs an von Ostens Leber zu nagen. Zusammen mit der Verbitterung, deren Quelle Hans, das «enthaarte Vieh», jener «ausgetragene Halunke» war, frass er ihn innerlich auf.
Als Krall am Sterbebett des greisen Meisters stand, fand er ihn ganz zusammengefallen vor, sich vor Schmerzen windend:
Am Ende hatte Hans von Osten trotz aller gewollter und ungewollter Zeichensendung nicht das gegeben, was er von ihm verlangt hatte. Dass das Pferd allein durch winzige Bewegungen gelernt hatte, seinen scharfen Zuchtmeister zu verstehen, genügte nicht. Dieser altersstarre Mann musste auch noch seinen letzten Kampf auf dem Rücken seines sensiblen Tieres ausfechten.
Hans kam nach von Ostens Tod in Kralls Besitz, wo er zusammen mit dessen beiden Araberhengsten – dem eifrigen Muhamed und dem eher phlegmatisch veranlagten Zarif – in zu einem echten Klassenzimmer umfunktionierten Stallungen unterrichtet wurde.
Dort verwandelten die drei Pferde gemäss ihrem Lehrer problemlos – und stets mit Scheuklappe – gemeine in Dezimalbrüche, sie lösten Gleichungen mit einer Unbekannten, zogen Wurzeln und potenzierten. Krall liess eine Pferdeschreibmaschine anfertigen, worauf die Pferde nun nicht nur zu schreiben lernten, sondern sich gar einer eigenen Orthographie bedienten.
Als jedoch eines Tages ein Stallknecht eine Stute in den Hof führte, verlor der keusche Hans auf der Stelle den Kopf und riss sich an der Flankierwand seines Standes den Bauch auf. Man sammelte seine Eingeweide auf, schob sie ihm in den Leib zurück und nähte die Wunde zu.
Er starb 1915 auf einem ruhigen Gut bei Mettmann, während seine beiden Mitschüler Muhamed und Zarif bereits ein Jahr zuvor als Packpferde an die Westfront abgezügelt worden waren.
Man hörte nicht wieder von ihnen.