Liebu
Interessant ist nicht nur, was er mit seinem Hirn alles leistete, sondern auch, was sein Hirn nach seinem Tod noch alles erleben durfte.
Mein Hirn wird wohl niemand wollen, obwohl es deutlich weniger „verbraucht“ sein dürfte.
Als Albert Einstein das Licht der Welt erblickte, befand die Grossmutter mit Schrecken: «Viel zu fett!» Und selbst der Mutter schwante, sie sei von einem Ungeheuer entbunden worden.
Nun war Einstein beileibe kein Ungeheuer, doch das, was er einmal denken wird, sollte die Welt in ihren Grundfesten so sehr erschüttern, dass man es freilich ungeheuerlich nennen möchte. Sein leuchtender Geist wird nicht nur über den Rand seiner Zeit hinausschwappen, er wird sich mit Lichtgeschwindigkeit durch den Raum bewegen und sich bis ins Universum ausdehnen.
Albert Einstein wird die Unendlichkeit mit seiner Vorstellungskraft füllen.
Sprechen tat er nicht, bis er drei Jahre alt war. Man hielt ihn für zurückgeblieben, dabei wuchs dieser kleine Junge nur in aller Ruhe zu einem Ausnahmemenschen heran. Er hatte offenbar noch nichts zu sagen. Er dachte lieber nach. Und vielleicht sogar blieb sein Verstand immer der eines Kindes, denn er verlernte nicht, über die Welt zu staunen, sich zu wundern über das Wesen gewisser Dinge und Besonderheiten zu sehen, wo niemand sie sah.
Albert Einstein dachte in Bildern. Und bis diese konkrete Gestalt angenommen hatten, schwieg er eben. Die Menschen besassen für ihn ohnehin weniger Realität als die Dinge. Besonders die autoritären Gestalten wie seine Lehrer, die seinen Eigensinn zu ersticken und seinen rebellischen Geist in geordnete Bahnen zu lenken versuchten, machten ihn wütend. Autoritätsdusel hielt er für den grössten Feind der Wahrheit.
Und so bekam der Physiker mit den schönen schwarzen Locken auch keine Anstellung an einer Universität, zu sehr hatte er seine ehemaligen ETH-Professoren (damals noch Eidgenössische Polytechnische Schule) verärgert, keiner von ihnen mochte ihm noch ein Empfehlungsschreiben ausstellen.
Stattdessen stellte man ihn in Bern im Eidgenössischen Amt für geistiges Eigentum ein. Mit seinen 26 Jahren prüfte er dort als «technischer Experte 3. Klasse» Erfindungen auf ihre Patentierbarkeit. Sein Büro war, so wird er später sagen, «das weltliche Kloster, wo ich meine schönsten Gedanken ausgebrütet habe».
Und tatsächlich, 1905 war Einsteins «Wunderjahr», das Jahr, in dem er die Früchte seiner Grübeleien zu Papier brachte: Er schrieb fünf bahnbrechende Arbeiten, darunter diejenige über die spezielle Relativitätstheorie, in deren Rahmen er auch das Naturgesetz der Äquivalenz von Masse und Energie – E = mc² – formulierte.
1905 wurde Einstein zum Mann, der den Ursprung, die Beschaffenheit und das Schicksal des Universums erkannte. Und dann kamen sie, die Lehrberufungen aus Bern, Zürich, Prag und München. Und dann kam der Ruhm der ganzen Welt.
Rio, Jerusalem, Tokio. Alle Türen flogen auf für den gefeierten Erkenntnisguru, selbst die der Queen, und Einstein ging durch alle hindurch mit seiner ihm eigenen Schludrigkeit, ohne Socken und mit zerzaustem Haar, während sein Gepäck einsam auf den Bahnsteigen so manch einer Weltstadt liegen blieb.
Plötzlich scharte sich alles um ihn. Die «New York Times» schrieb vor seiner Ankunft in Manhattan, man solle sich bloss nicht von der Tatsache abschrecken lassen, dass nur zwölf Menschen auf der Welt seine Arbeit wirklich verstünden.
Dem Ruhm folgten Neid und Hass auf dem Fusse. Da waren die gewöhnlichen Antisemiten, die es nicht vertrugen, dass ein Jude zu einem Star avanciert war, da waren die katholischen Bischöfe, die Einsteins Relativitätstheorie als Angriff auf Gott verstanden, wo sie doch vielmehr formvollendetster Ausdruck einer Schöpferkraft war; für Einstein war «Gott» nichts anderes als die Summe aller Gesetze und Ordnungen, nach denen die Welt entstand und weiterbesteht. Und dieser Schöpfung begegnete er stets mit Demut, nie hätte er es sich angemasst, sie mit seinem begrenzten Menschenverstand vollends begreifen zu können.
1933 folgten dann die Nationalsozialisten, seine Arbeiten landeten als «jüdische Perversion» in Goebbels Feuer «undeutschen Schrifttums» und sein Name auf einer Attentatsliste. Zu den 50'000 Reichsmark, die auf seinen Kopf ausgesetzt wurden, bemerkte Einstein, in sein verstrubbeltes Haar fassend, dass er gar nicht gewusst habe, dass er so viel wert sei.
Er floh nach Princeton und wurde Amerikaner. Dort lebte er, bis sein einst so dichter Haarschopf zu einem zausigen Kränzlein zusammengeschrumpft war. In einem Bett im Princeton Hospital liegend, bat er zum letzten Mal um seine neusten Berechnungen. Dann platzte das Aneurysma in seiner Bauchaorta.
Seinem Biographen hatte Einstein gesagt, er wolle kremiert werden, damit die Leute nicht kämen, um seinen Gebeinen zu huldigen. Doch bevor sein letzter Wunsch in Erfüllung gehen und seine Asche an einem geheimen Punkt am Delaware River verstreut werden sollte, nahm sich Dr. Thomas Stoltz Harvey der fleckigen Leiche an.
Der Mann, der tief unten im Enddarm des Krankenhauses arbeitete. Der Mann, der Einsteins Körper mit seinem Skalpell aufschnitt, seinen Brustkorb aufsägte und in seinem Innern herumwühlte, sein Gedärm herausriss, seine Leber in eine Schüssel legte und dann, als er das Herz des Toten in der Hand wog, einen Entschluss fasste.
Er nahm die Kreissäge und fräste damit ein paar Zentimeter unterhalb des fransigen Haarkranzes durch Einsteins Schädel, setzte dann einen Meissel in den Spalt, zog die klebrigen Hirnhäute ab und stemmte die Schädeldecke vom Kopf. Er durchtrennte Blutgefässe, Nervenstränge und Rückenmark – dann lag er endlich frei, jener heilige Gral der Genialität. Und Harvey hob ihn vorsichtig aus seiner Höhle, von wo aus er 76 Jahre lang sein Wunderwerk getan hatte.
Er legte die 1,2 Kilogramm Heiligkeit in Paraformaldehyd-Lösung, konservierte sie für die Ewigkeit. Dann schnitt er seine Reliquie in 240 Scheiben. In dieser Form würde sie die nächsten Jahrzehnte in Gläsern herumschwappen, im Kofferraum des Pathologen, dem man im Princeton Hospital gekündigt hatte und der bald auch seine Zulassung als Arzt verlor. Fortan würde er sich als Fabrikarbeiter durchschlagen, kreuz und quer durchs Land fahren, während er seine zerschnippelte Beute niemals aus den Augen liess. Denn ihr hatte er alles geopfert.
Harvey verstand sich als Behüter seines heiligen Schatzes. Allein aus beruflichem Pflichtgefühl heraus habe er das schlauste Gehirn des Jahrhunderts an sich genommen, durch ihn nämlich würde es nun weiterleben, und vielleicht irgendwann, irgendwem sein Geheimnis offenbaren.
Wahrscheinlich hat Harvey sich das auch ein bisschen zurecht legitimiert, denn er war keinem hehren Plan gefolgt, er hatte jene «Rettung» überhaupt nicht durchdacht. Es war vielmehr ein Impuls, der ihn ganz plötzlich durchzuckte, und dem er nachgab, als er den leblosen Einstein vor sich liegen hatte.
Und so erfuhr Einsteins ältester Sohn Hans Albert von der Gehirn-Entnahme erst aus der Zeitung. So manch ein Blatt verliess da den Pfad der Wahrheit, um die Autopsie in ein Schlachtfest skalpellwütiger Ärzte zu verwandeln, die den Körper des toten Wissenschaftlers rückhaltlos ausweideten. Die Öffentlichkeit hielt Harvey für einen gemeinen Dieb, der sein Raubgut für Geld in seinem Keller ausstellte. Manche munkelten auch, er sei ein morbider Spinner, der seinen Namen ans Gehirn des grossen und gefeierten Geistes zu heften versuchte, damit etwas von dessen Berühmtheit auf ihn abfärbe.
Doch der Pathologe schaffte es schliesslich, Hans Albert von der Richtigkeit seines Handelns zu überzeugen. Dieser überliess ihm das Gehirn seines Vaters unter der Bedingung, es allein zu Forschungszwecken zu verwenden. Vielleicht würde es ja tatsächlich eines Tages seine Genie-Essenz enthüllen.
Von nun an war es also Harveys Aufgabe, den heiligen Gral vor allen gierigen und unlauteren Händen zu schützen, die bald nach ihm fingerten: Er schlug Geldangebote anatomischer Gesellschaften und Kuriositätensammler aus und verweigerte sich der Business-Idee eines Unternehmers, der winzige Stücklein von Einsteins Gehirn in Kugelschreiber und Erinnerungsplaketten eingiessen wollte.
Er nahm seinen selbst auferlegten Auftrag sogar so ernst, dass er sein Heiligtum über dreissig Jahre lang niemandem anvertraute. Der Mann schien mitsamt seinen Einmachgläsern verschwunden, was wiederum das FBI so sehr beunruhigte, dass Einsteins Geheimakte noch einmal anschwoll.
Bereits zum Zeitpunkt seines Todes 1955 war diese 1427 Seiten dick. Gefüllt mit den aufrührerischen Aktivitäten des Physikers, der sich zu Lebzeiten lautstark gegen den militanten Nationalismus in seiner alten Heimat und die Rassentrennung in seiner neuen äusserte. Die sozialen Klassenunterschiede empfand er als ungerecht und die Atomwaffen als Wahnsinn.
Für J. Edgar Hoover war der Physiker, wenn auch nicht zwingend ein Kommunist, so zumindest ein «extremer Radikaler», den es zu überwachen galt. Und zwar bis nach seinem Tode, denn schliesslich konnte sein Geniehirn schnell in sowjetische Hände fallen, man würde es dort vielleicht sogar klonen ...
An einem Frühlingsmorgen 1983 ging ein gut verpacktes Mayonnaise-Glas in der Poststelle an der Berkeley-Universität in Kalifornien ein. Adressiert war es an die Neurowissenschaftlerin Marian Diamond. Drei Jahre lang hatte sie den misstrauischen Harvey dafür bearbeitet.
«Rate mal, was hier drin steckt, Jerry», sagte sie dem Hausmeister, der die Frage leicht gelangweilt mit einem Achselzucken abtat. «Teile von Einsteins Gehirn», verriet sie ihm daraufhin. «Ach, Marian, hör doch auf ...»
Inzwischen waren aus den einstigen Phrenologen echte Neurowissenschaftler geworden, die keine dubiosen Zeichnungen von verschiedenen Gehirnarealen auf Gipsköpfe mehr malten, sondern fähig waren, ein noch lebendes Gehirn zu scannen und so dessen Nervenzellen bei der Arbeit beizuwohnen.
Marian Diamond arbeitete damals mit Ratten und stellte die These auf, dass äussere Einflüsse deren Gehirnanatomie verändern können: Reicherte sie nämlich die Umgebung der Laborratten mit «Spielzeug» an, bildeten ihre Gehirne mehr sogenannte Gliazellen – diese stützen und ernähren die Nervenzellen – aus als die Gehirne derjenigen, die in leeren Käfigen aufwuchsen.
Die Forscherin sollte recht behalten und damit die Sicht auf unser ganzes Denken für immer verändern: Nie wieder würde das Gehirn als statisches und unveränderliches Gebilde wahrgenommen werden, das sich mit dem Alter einfach zurückbildet. Diamond hatte gezeigt, dass Erfahrungen es formen können und revolutionierte damit auch gleich die Art, wie man fortan Kinder erzog.
Und nun hatte sie endlich die Chance bekommen, ihre These an einem der aussergewöhnlichsten menschlichen Gehirne zu verifizieren. Gemeinsam mit ihrem Team zählte sie in mühseliger Arbeit die Glia- und Nervenzellen in den Proben von Einsteins Hirnscheiben und verglich die Zahl mit jenen, die sie in toten Kriegsveteranen fand.
Und tatsächlich, im Abschnitt des unteren Scheitellappens war der Unterschied statistisch signifikant: Im Bereich, der fürs Sprechen und Rechnen wichtig ist, in dem visuelle Reize verarbeitet werden und komplexe Zusammenhänge erkannt werden, wies das Gehirn des Physikers 73 Prozent mehr Gliazellen auf als diejenigen der Kontrollgruppe.
16 Jahre später erschien ein Paper mit dem Titel «The exceptional brain of Albert Einstein». Geschrieben hatte es die kanadische Neurowissenschaftlerin Sandra Witelson, die von Harvey mit drei Stücklein Einstein beglückt worden war. Vor allem aber übergab ihr der ehemalige Pathologe die Fotos vom Genie-Gehirn, die er kurz nach dessen Entnahme gemacht hatte. Aus allen Winkeln hatte er es damals abgelichtet und so konnte Witelson feststellen, dass Einsteins Denkapparat tatsächlich eine etwas andere Form hatte als üblich.
Dies, so spekulierte die Hirnforscherin, mochte dem Physiker eine bessere Vernetzung ermöglichen, seine visuellen, räumlichen und mathematischen Verarbeitungsprozesse beschleunigen, vielleicht sogar Ausdruck davon sein, dass in seinem Oberstübchen, wie er es selbst einmal beschrieb, «Worte keine Rolle spielten», sondern «ein assoziatives Spiel von mehr oder weniger klaren Bildern» stattfinde.
Aber das blieben blosse Mutmassungen, denn da waren keine anderen genialen Gehirne, mit denen man Einsteins hätte vergleichen können. Manche Kritiker fühlten sich davon gar ins 19. Jahrhundert zurückversetzt, wo die Phrenologen von der Form und den Ausprägungen verschiedener Gehirnareale sofort auf deren entsprechende Leistung oder Charaktereigenschaft geschlossen hatten.
Am Ende sprach Einsteins Gehirn nicht. Es schwieg, als Harvey es zu Einsteins Enkelin brachte, die es dankend ablehnte, und es schwieg auch noch, als er es in zwei Bonbongläsern seinem Nachfolger Elliot Krauss im Princeton Hospital in die Hand drückte.
Harvey hatte es zurückgebracht an den Ort, wo er es vor 44 Jahren aus Einsteins Schädel hob. Und an seiner Stelle hoffte nun Krauss darauf, dass diese letzten, von der langen Reise vollends durchgeschüttelten Hirnklumpen des genialen Physikers eines Tages ihr Geheimnis preisgeben.
Doch vielleicht sollten wir ihm auch einfach einmal Ruhe gönnen. Vielleicht sollten wir seinen Mythos nicht entzaubern wollen, sondern uns mit den Gedanken begnügen, mit denen dieses Ausnahme-Organ einst die Welt bereicherte. Uns über seinen sprühenden Geist wundern, der noch für lange Zeit weit über die Ränder unserer Durchschnitts-Gehirne hinausschwappen wird.