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«Ich habe gehört, dass ihr hier seid, um eine Intellektuelle zu treffen. Ich bin keine.» Das ist der erste Satz von Nadja Tolokonnikowa. Er ist gut. Er schraubt am Dienstagabend die Erwartungen im übervollen Zürcher Kaufleuten humorvoll und effizient runter. Sie ist hier zum Plaudern. Nicht zum Theoretisieren.
Obwohl sie das in ihrem Buch «Anleitung für eine Revolution» durchaus tut. Was dabei herauskommt, sind Slogans für den revolutionär dekorierten Coffee-Shop: «Die Macht sind wir», «Es ist ganz einfach: Habt keine Angst», «Feministischer Punk raubt dir den Verstand, doch es lohnt sich – wehre dich nicht dagegen», «Warte nicht, bis man dir die Haut abzieht», «We need revolution and we need it now». Das bringt nichts.
Aber egal. Nadja Tolokonnikowa ist 26. Und nicht einfach eine banale 26-Jährige. Nadja Tolokonnikowa war Pussy Riot. Also eine 26-Jährige Russin plus Punk-Konzert in einer Moskauer Kathedrale im Februar 2012. Plus 8 Monate Haft. Plus 2 Jahre grauenhaftes Arbeitslager. Plus Popstar-Status. Wenn sie in ihrem Buch über dieses Leben schreibt, ist das ausgezeichnet. Souverän, kein bisschen weinerlich, von einem coolen Feuer.
Ob sie immer noch Pussy Riot ist, darüber gibt es verschiedene Auslegungen. Sie selbst sagt, Pussy Riot sei keine geschützte Marke, auch andere dürfen sich Pussy Riot nennen, sie will keine Aussage machen zur Bemerkung des Moderators, dass sich ihre Band-Kolleginnen aus der Christ-Erlöser-Kathedrale von ihr distanziert hätten. Sie selbst arbeitet immer noch unter dem Namen Pussy Riot.
Distanziert haben sich ihre Kolleginnen, weil Tolokonnikowa zum einzig wahren Gesicht von Pussy Riot wurde, das sich vortrefflich vermarkten liess. Weil sich Menschen wie Madonna, Slavoj Zizek und Angela Merkel für sie einsetzten. Weil Tag für Tag Leute vor dem Lager für sie demonstrierten. Weil ihr heute die Angebote für Kosmetik- und Mode-Werbe-Verträge hinterher geschmissen werden. Weil sie in der dritten Staffel von «House of Cards» sich selbst spielte.
In ihrem neu gefundenen Glamorama wurde sie eines Tages auch von Taylor Swift zu einem Treffen eingeladen. Sie mochte Taylor Swift nicht: «Ich fragte mich: Nadja, was ist eigentlich Punk-Toleranz?», erzählt sie in Zürich, «ich sagte mir: Okay, Taylor Swift zu ertragen, das ist wahre Punk-Toleranz.» Und über Amerika: «Ich sagte mir: Amerika ist nicht einfach Scheisse. Amerika ist einfach eine andere Kultur.»
40 Sekunden dauerte am 21. Februar 2012 das «Punk-Gebet» von Pussy Riot in der Moskauer Kirche, für das Tolokonnikowa verhaftet wurde. Es war, wie alle Aktionen der Gruppe, gewaltfrei. Es war, wie alle Aktionen der Gruppe, eine bewusste Provokation. Obszön im Inhalt. Ein kalkuliertes Risiko. Deshalb jammert Tolokonnikowa in ihrem Buch und auf der Bühne auch überhaupt nicht rum: Die Strafe, die sie mit 22 Jahren traf, war für sie keine Überraschung.
Ihr Schicksal machte sie keinen Moment lang sentimental. Und auch nicht die Tatsache, dass sie Mann und Tochter vielleicht für immer zurücklassen musste. Zweimal trat sie im Lager in den Hungerstreik. Beim zweiten Mal riskierte sie den Tod. Doch dann rief Putins Bevollmächtigter für Menschenrechte an und bat sie, damit aufzuhören. Er war bereit, auf einige ihrer Bedingungen zur Besserung der Situation im Lager einzugehen. Tolokonnikowas Sturheit hatte gesiegt. Dafür gebührt ihr eine Tonne Bewunderung.
Sie war sich, sagt sie im Kaufleuten, immer schon bewusst, für Aussergewöhnliches geschaffen zu sein: «Als ich zehn war und die Beste in der Schule, sagte meine Lehrerin: Du wirst mal die Frau eines Präsidenten! Ich sagte: Wieso soll ich die Frau eines Präsidenten werden und nicht Präsident? Als ich zwölf war, sagte mein Vater: Wieso liest du Mädchenmagazine? Das ist was für Vierjährige! Und er gab mir zeitgenössische Literatur zu lesen.»
Ihr Erzfeind ist Vladimir Putin. Der 2012 ganz direkt für die Verurteilung von Pussy Riot verantwortlich war. Bei ihren Auftritten in Deutschland soll sie legendäre Wortspiele mit Putin und Penis gemacht haben. In Zürich sagt sie bloss: «Putin hat ein Problem mit Ideologien, weil er ein leerer Mensch ist. Er startete einen eigenen Twitter-Account, vielleicht ist das seine grösste Errungenschaft als Präsident.»
Das ist ein bisschen banal. Und auch ihre schönste Kindheitserinnerung an den Vater – sie vertilgten zusammen einen Salzstein – kann die riesigen Erwartungen an die «wahre Revolutionärin», als die Tolokonnikowa seit ihrer Freilassung gefeiert wird, nicht wirklich erfüllen.
Aber da müssen wir jetzt auch unsere eigene Erwartungshaltung in Frage stellen. Denn Nadja Tolokonnikowa ist, was sie ist: Eine unkomplizierte, recht lustige, mal forsche, mal scheue 26-Jährige. Der das Leben in einem einzigen, fatalen Augenblick plötzlich mehr abverlangte, als uns allen, die wir sie jetzt lesen oder hören oder auch nur anschauen wollen. Weil wir Ikonen nun mal lieben.
Ihr Buch ist so wenig eine Anleitung für eine Revolution wie Jamie Olivers neues Kochbuch. Oder genau so sehr. Aber es erzählt die drei härtesten Jahre ihres Lebens. Und die sind verdammt beeindruckend.
Nadja Tolokonnikowa: Anleitung für eine Revolution. Hanser Berlin, München 2016. 217 S., ca. 27 Fr.