Man wähnt sich vor einem Sandkasten, in dem zwei Buben sitzen und um Spielzeug streiten. Sie kreischen, kratzen, schmollen, eigentlich hätte jemand sie längst in ihre Zimmer schicken sollen. Gemeint sind Thierry Frémaux, der künstlerische Leiter der Filmfestspiele von Cannes, und Ted Sarandos, Chef Filme und Serien beim Streaminganbieter Netflix. Der 57-jährige Franzose und der 53-jährige Amerikaner tragen seit Wochen über die Medien einen Streit aus, der beide Parteien in kein sehr sympathisches Licht rückt.
«Uns geht es ganz um die Zukunft des Kinos – wenn Cannes in der Vergangenheit feststecken will, sollen die doch», quengelt Sarandos beispielsweise. «Netflix hat so viele Filme, die könnten doch einfach für Cannes eine Ausnahme machen», quengelt seinerseits Frémaux. Worum gehts? Auslöser des Konflikts war Frémaux’ Entschluss, beim diesjährigen Festival (8. bis 19. Mai) sämtliche Netflix-Filme aus dem internationalen Wettbewerb auszuschliessen. Darauf verkündete Sarandos, die Filmfestspiele komplett zu boykottieren – sprich: auch in den Nebenreihen abseits des Wettbewerbs keine Netflix-Filme aufzuführen.
Knackpunkt ist die Gesetzgebung
Die unmittelbare Konsequenz: Wenn das wichtigste Filmfestival der Welt am kommenden Dienstag in seine 71. Ausgabe startet, werden einige der vielleicht wichtigsten Filme des Jahres fehlen. Etwa «Roma», das neue Werk von Oscar-Gewinner Alfonso Cuarón («Gravity»). Oder «Norway», Paul Greengrass’ filmische Auseinandersetzung mit dem Massenmörder Anders Breivik. Oder «The Other Side of the Wind», ein Film des grossen Orson Welles aus den 70ern, der erst jetzt fertiggestellt wurde. Alle drei Filme wurden von Netflix finanziert.
In einem Interview sagte Cannes-Direktor Frémaux kurioserweise: «‹Roma› ist ein fabelhafter Film, den wir gerne im Wettbewerb gehabt hätten.» Warum verwehrte er diesem und allen anderen Netflix-Filmen dann höchstpersönlich den Zugang zum Festival? Frémaux schiebt die Schuld Netflix selbst in die Schuhe, genauer: ihrem Geschäftsmodell. Netflix produziert seine Inhalte primär für die eigene Plattform, auf die alle Nutzer(innen) via Fernseher oder mobile Geräte jederzeit Zugang haben. Wenn das Unternehmen hin und wieder einen seiner Filme für kurze Zeit auch in ein paar Kinos zeigt – um diese damit für die Oscars zu qualifizieren –, besteht Netflix auf einen sogenannten Day-and-Date-Release: Der Film wird im Kino und auf der Internetplattform am selben Tag veröffentlicht. Ausnahmslos.
In Frankreich aber besteht ein Gesetz, das besagt, dass neue Filme, die in einem französischen Kino aufgeführt werden, erst 36 Monate später auf einer digitalen Plattform weiterverwertet werden dürfen. Das Gesetz dient zum Schutz der französischen Kinobetreiber, die um ihre Einnahmen bangen. Und von denen nicht wenige im Verwaltungsrat der Filmfestspiele von Cannes sitzen.
Für Netflix bedeutet das: Wenn die Firma in Cannes einen Film zeigen möchte, müsste sie sich bereit erklären, drei Jahre zu warten, bis sie diesen Film auf ihrem eigenen Internetportal veröffentlicht. Diese unrealistische Forderung treibt Sarandos zur Weissglut: «Was Cannes feiert, ist nicht die Filmkunst, sondern den Filmverleih.» Der harte Kurs von Kinobetreibern, konstatierte Sarandos 2016, werde eines Tages nicht nur die Kinos töten, sondern möglicherweise sogar die gesamte Filmbranche.
Der Konflikt zwischen Cannes und Netflix erstreckt sich weit über die Côte d’Azur und auch weit über die kalifornische Kleinstadt Los Gatos, wo das Techunternehmen seine Büros hat. Der Konflikt ist ein Glaubenskrieg mit harten Fronten, die quer durch die Filmindustrie verlaufen. Auf dem Spiel steht nichts weniger als die Deutungshoheit, wie Zuschauer in Zukunft Filme konsumieren sollen. Als gemeinschaftliches Erlebnis in einem Kinosaal, sagt Cannes. Als Instanterlebnis daheim auf der Couch oder unterwegs, sagt Netflix. Steckt Cannes in der Vergangenheit fest? Ist das, was Netflix macht, überhaupt noch Kino?
Netflix springt in die Bresche
Fakt ist: An den Kinokassen machen heute fast nur noch Superheldenfilme und andere teure Fortsetzungen Eindruck (18 der 20 weltweit finanziell erfolgreichsten Kinofilme 2017 fallen in diese Kategorie). Kleine und mittelgrosse Filme mit originellen Inhalten dagegen werden immer mehr gemieden, weil sie von den Hollywoodstudios als finanzielles Risiko betrachtet werden.
Ein Beispiel: Nachdem Martin Scorseses Film «Silence» Anfang 2017 an den Kinokassen floppte, kündete das Studio Paramount Pictures kurzerhand seine langjährige Zusammenarbeit mit dem Regieveteranen auf. In die Bresche sprang Netflix. Und stattete Scorseses neuen Mafiathriller «The Irishman» (mit Robert De Niro und Al Pacino) mit einem Megabudget von 140 Millionen Dollar aus. Kann es sich Cannes leisten, auf solche Filme zu verzichten? Während sich die Leiter der Konkurrenzfestivals die Hände reiben (Berlin, Venedig und Toronto kennen keine Berührungsängste mit Netflix), sagt Frémaux: «Wir führen mit Netflix weiterhin Gespräche, die Tür steht ihnen offen.» Ein zynischer Satz. Denn Netflix wird sein Geschäftsmodell nicht einfach für Cannes auf den Kopf stellen. Und die Kinonation Frankreich ihre Gesetzgebung wohl ebenso wenig.
Zynisch klingt es allerdings auch bei Sarandos, wenn er sagt: «Dass Filme auf eine grosse Leinwand gehören, ist eine romantische Sicht, von der wir uns verabschieden müssen.» Wo man einen Film am liebsten schaut, entscheidet man immer noch für sich selbst. Abends zu netflixen, am Wochenende ins Kino zu gehen und im Sommer ein Filmfestival zu besuchen, das schliesst sich nicht gegenseitig aus. Frémaux und Sarandos könnten das erkennen. Sie müssten sich nur mal den Sand aus den Augen reiben.